Julia Extra Band 366
nichts an! „Pflichtgefühl mag dir ja fremd sein …“, fuhr er sie an.
Vor Wut setzte sie sich kerzengerade im Bett auf. „Tun wir einfach einen Moment lang so, als wüsste ich ungefähr, was das ist.“
„Ich habe die Schule auch gehasst, aber man läuft nicht vor Dingen davon, die man nicht leiden kann. Sonst macht man das später im Leben immer so.“ Santiago wollte nicht, dass seine Tochter lebensuntüchtig wurde.
„Was einen nicht umbringt, macht einen stark, meinst du? Ist dir in den Sinn gekommen, sie zu fragen, warum sie wegläuft?“
„Natürlich habe ich sie gefragt. Aber ich lasse mir nur ungern Erziehungsratschläge von einer Frau geben, die wohl kaum ein Vorbild für irgendein junges Mädchen ist.“
Lucy entgleisten die Gesichtszüge. „Ich werde mich bemühen, Gabby nicht anzustecken mit meiner …“ Sie atmete tief durch, um sich zu beruhigen. „Ich bedaure, dass ich dir so viele Umstände bereitet habe“, erwiderte sie förmlich.
„Wie gesagt, es ist das Mindeste, was ich tun konnte, nachdem mein Bruder dich zum Reiten eingeladen hat und du auf meinem Gut verunglückt bist.“ Das Mindeste wäre, dass ich mich nicht mit ihr gestritten hätte, solange sie an einer Gehirnerschütterung leidet, dachte er.
Vorwurfsvoll schaute sie ihn an.
Zu recht, befand Santiago. Er hatte gespürt, dass Lucy ihm zu nahekam, dass er ständig an sie denken musste. Und er hatte sie instinktiv mit aller Härte weggestoßen.
„Wie geht es Ramon?“, fragte Lucy.
„Ich besuche ihn heute Nachmittag“, teilte Santiago ihr kühl mit.
„Würdest du ihn bitte herzlich von mir grüßen?“
„Nein, werde ich nicht“, presste er wütend hervor und verließ das Zimmer.
„Na schön, ich melde mich selbst bei ihm, wenn ich hier raus bin. Und keine Sorge, ich bleibe keine Sekunde länger als nötig. Nur ein Erdbeben kann mich aufhalten!“, schrie Lucy ihm nach.
10. KAPITEL
Als ein paar Minuten später der Arzt kam, war Lucy so niedergeschlagen und unkonzentriert, dass er ihr bis zum nächsten Tag Bettruhe verordnete.
Lucy, die gehofft hatte, zur Finca zurückkehren zu dürfen, reagierte entsetzt. Aber dann merkte sie, dass ihr gar nicht danach war, aufzustehen. Die meiste Zeit schlief sie. Einmal wachte sie am frühen Abend auf und sah Gabby am Fußende des Betts sitzen. Lucy wusste, dass Santiago fürchterlich wütend werden würde, wenn er seine Tochter hier fand.
„Keine Sorge, Papá ist noch bei Onkel Ramon im Krankenhaus“, sagte sie.
Also war sie ermahnt worden, Lucy nicht zu besuchen. Josef, der ihr das Abendessen brachte, ersparte es ihr, das Mädchen wegzuschicken. Als er ging, nahm er die sich sträubende Gabby einfach mit.
Am nächsten Morgen war Lucy in der Lage, dem Arzt zu versichern, dass es ihr gut gehe. Manche Dinge verriet man niemandem, nicht einmal seinem Arzt. Und dazu gehörten die Träume, aus denen sie bebend vor Erregung aufgewacht war.
Der Arzt befragte sie gründlich und verkündete, sie könne nach dem Mittagessen nach Hause.
Lucy hätte gern das alte Schloss erkundet, aber sie blieb in ihrem Zimmer, um Santiago nicht über den Weg zu laufen. Und er schaute auch nicht nach ihr. Nicht, dass sie es von ihm erwartet hatte. Vielleicht meidet er mich, oder er hat einfach vergessen, dass ich hier bin, dachte sie voller Selbstmitleid und hatte keinen Appetit auf das Mittagessen, das Josef ihr auf einem Silbertablett brachte.
„Wie geht es Lucy? Es tut mir leid, dass ich sie einfach habe stehenlassen. Als der Arzt im Schloss meinte, er müsse sich auch um das Opfer eines Reitunfalls kümmern, wusste ich sofort …“
Sein Bruder sah aus wie der leibhaftige Tod, und Santiago hatte aus Rücksicht das Thema nicht angeschnitten, das ihm vor allem am Herzen lag. Jetzt, da Ramon selbst davon angefangen hatte, konnte er sich nicht länger zurückhalten.
„Um Himmels willen, Ramon, ich weiß, dass sie dich verhext hat. Und ich gebe zu, dass die Frau … unwiderstehlich ist, aber …“
Ramon wedelte mit der Hand, an der der Tropf befestigt war. „Aber ich schlafe nicht mit ihr.“
Als ihn sein Bruder ungläubig anblickte, lächelte er matt. „Oh, versteh mich nicht falsch, ich würde es tun, wenn ich könnte. Oder vielmehr, wenn sie es wollte. Sie ist nicht an mir interessiert. Ich habe erfahren, dass du sie aufgefordert hast, sich von unserer Familie fernzuhalten, und ich … ich habe es satt, dass du dich ständig in mein Leben einmischst. Mensch, Santiago, wie soll ich
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