Julia Extra Band 367
war, so ließ Ciro sie jetzt wie eine Puppenstube aussehen.
„Das ist alles?“, fragte er ungläubig.
Obwohl er damit nur aussprach, was sie ja auch von ihrem neuen Zuhause dachte, traf seine Frage einen sehr wunden Punkt. Vor Jonnys Wochenendbesuch hatte Lily sich drei arbeitsreiche Tage abgemüht, aus der kleinen Wohnung ein ansprechendes Zuhause zu zaubern. Sie hatte die Wände weiß gestrichen und überall Spiegel aufgehängt, um die Zimmer größer und heller erscheinen zu lassen. Ein paar Pflanzen, soweit es der begrenzte Platz zuließ, Familienfotos und bunte Kissen auf dem neuen Bettsofa sollten es gemütlicher machen. Doch im Grund war alle Mühe umsonst gewesen. Die Wohnung blieb, was sie war: zwei winzige, vollgestopfte Zimmer, die viel zu klein waren für einen schlaksigen Teenager mit Turnschuhen so groß wie Kähne.
Dabei hatte Jonny sich mit keinem Wort beklagt. Aber seine tapfere Miene war für Lily noch viel schwerer zu ertragen gewesen. Sie haderte mit dem Schicksal, das ihrem kleinen Bruder schon so viel zugemutet hatte. Nachdem er wieder weg war, fand sie dann zu allem Überfluss noch den zerknitterten Brief, der ihm aus dem Rucksack gefallen sein musste. Da hatte sie ihre Tränen dann nicht mehr zurückhalten können.
„Ja, das ist alles“, antwortete sie jetzt trotzig. Ciros Stärke und Kraft machte ihr die eigene Schwäche besonders bewusst. „Was willst du hier?“
Ja, was wollte er? Ciro beobachtete nachdenklich, wie sie die Lippen zusammenpresste, als wollte sie verhindern, dass sie zitterten. Ihre Frage war gar nicht so einfach zu beantworten. Was würde Lily sagen, wenn sie wüsste, dass er darauf gewartet hatte, dass sie ihn nach dem enttäuschenden Abschluss ihres Dinner Dates anrufen würde? Dass er immer wieder ungläubig auf sein Handy gestarrt hatte, als weder ein Anruf noch eine Nachricht von ihr kam? Er war so überzeugt gewesen, dass sie ihm auf die Dauer nicht widerstehen könnte. Dass er sie im Nu im Bett haben würde. Aber dem war nicht so. Von Lily Scott kam nichts als Schweigen.
Er wartete. Und wartete. Bis er es nicht mehr aushielt. Er war zu ihrer Wohnung gefahren, entschlossen, den schnellsten Weg in ihr Bett zu finden. Nun aber war er sich nicht mehr sicher, was er wirklich wollte, denn Lilys verweinter Anblick weckte in ihm Gefühle, die ihm völlig neu waren. Plötzlich hegte er nur noch den Wunsch, sie vor allen Problemen und allem Schlimmen in der Welt zu beschützen.
„Erzählst du mir jetzt, warum du geweint hast?“, fragte er schroff.
Lily blickte starr zu Boden und blinzelte gegen die aufsteigenden Tränen an. „Das geht dich nichts an.“
„Lily.“ Als sie nicht reagierte, sagte er noch einmal: „Lily. Sieh mich bitte an.“
Widerwillig blickte sie auf. „Und?“
„Warum hast du geweint?“
Sie hätte ihm einen ganzen Sack voll Gründe nennen können: Weil es keinen großen Spaß machte, in unmittelbarer Nachbarschaft zu einem lärmenden Pub zu wohnen. Weil sie immer noch völlig erschöpft war, nachdem sie die Renovierung der Wohnung und den Umzug all ihrer Habseligkeiten ganz allein bewältigt hatte. Und so weiter. Aber all diese Gründe verblassten angesichts ihrer Entdeckung, dass ihre jetzige, prekäre finanzielle Lage alle Hoffnungen und Träume ihres kleinen Bruders zu zerstören drohte.
Am liebsten hätte sie Ciros Frage ignoriert, weil sie befürchtete, erneut in Tränen auszubrechen. Aber er wirkte so unnachgiebig und entschlossen, und sie war mit ihren Kräften am Ende. Also entschied sie sich, ihm zumindest irgendeine Antwort zu geben. „Es war einfach schwieriger, als ich dachte … der Umzug, der Abschied vom Gutshaus, die Entscheidung, was ich mitnehmen sollte, was zurücklassen.“ Sowieso hatte ihre Stiefmutter alles von Wert längst in ihr Haus in London bringen lassen. Was übrig geblieben war, war meist zu groß oder schwer für die winzige Wohnung über der Teestube gewesen.
Wenigstens hatte Lily sich den kleinen Sekretär ihrer Mutter und das Gemälde eines Schiffs sichern können, das im Arbeitszimmer ihres Vaters gehangen und sie als Kind immer fasziniert hatte. Darüber hinaus hatte sie nur wenig mitgenommen, und das Wenige wirkte in den engen Zimmern ihrer neuen Wohnung fehl am Platz. Der alte Sessel war zu groß, der Tisch zu massiv, und das neue moderne Bettsofa passte überhaupt nicht dazu. Außerdem war es als Schlafstätte für einen schlaksigen Teenager wie Jonny ziemlich ungeeignet. Plötzlich regte
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