Julia Extra Band 370
sie überhaupt ins Konzert gegangen, wenn sie noch am Leben wäre? Während Shirleys gesamter Kindheit war ihre Mutter kaum einmal im Kino gewesen, geschweige denn in der Konzerthalle.
„Bereit?“ Hayden lehnte sich flüsternd zu ihr herüber. Dabei berührte seine Schulter ihre, seine Wärme schien auf sie überzugehen.
Das letzte Geflüster verstummte, als der weißhaarige Mann die Arme hob.
Und dann kamen sie, die ersten unverwechselbaren Takte von Beethovens fünfter Sinfonie. So nah hatte die Musik eine fast überwältigende Wucht. Die Klangfülle. Die Präsenz. Es war wunderbar! Das leidenschaftliche Spiel des Orchesters, das Zusammenwirken des Dirigenten mit den Musikern, die Melodien.
Shirley schloss die Augen und ließ die herrliche Musik über sich hinwegfluten.
Bei der Steigerung des Schlusssatzes hob und senkte sich ihre Brust, ihr Herz schlug synchron mit den Klängen, Shirley musste sich daran hindern aufzuschreien.
Dann … nichts.
Stille.
Der Dirigent ließ den Stab sinken. Shirley wandte sich atemlos Hayden zu. Sie konnte nicht klatschen, weil niemand sonst es tat. Sie durfte nicht aufspringen und nach mehr schreien. Sie konnte nur Haydens Hand nehmen und hoffen, dass er ihr die Begeisterung und Dankbarkeit von den Augen ablesen konnte.
Er erwiderte ihren Blick. Neugierig – als wäre sie eine seltsame Art Mensch, die er gerade entdeckt hatte. Aber da war noch etwas.
Neid.
Das Gemurmel im Publikum wurde so laut, dass Shirley ein Flüstern riskieren konnte, doch sie brachte keinen sinnvollen Satz zustande. „Hayden …“
Und er schien zu verstehen. Er sah kurz auf die Bühne, wo ein Mann aufstand und zu einem Klavier ging, bevor er den Blick wieder auf Shirley richtete.
In diesem Moment passierte es …
Die Mondschein-Sonate. Shirley rang nach Atem. Die Musik, zu der der Sarg ihrer Mutter aus der Kapelle getragen worden war.
Starr vor Trauer saß Shirley da. Dieser schreckliche Tag.
Haydens Augen wurden dunkler, der Druck seiner Finger verstärkte sich. Bei der Beerdigung ihrer Mutter vor zehn Jahren hatte sie allein geweint, aber jetzt war Hayden Tennant an ihrer Seite und hielt sie fest. Der einzige andere Mensch im Saal, der wusste, was die Mondschein-Sonate für sie bedeutete.
Sie versuchte, die Tränen wegzublinzeln.
Vergeblich.
Hayden war bezaubert gewesen von Shirleys Ekstase. Es war so lange her, dass er irgendetwas gefühlt hatte, er wollte ihre Freude, ihre völlige Versunkenheit in die Musik aufsaugen. Ungestört hatte er Shirley ansehen können, während sie aufgewühlt und überwältigt alles um sich herum vergaß.
Als sie ihm nach dem ersten Stück ihre Aufmerksamkeit geschenkt hatte, war ihr Blick so strahlend, lebhaft und fiebrig gewesen, wie er es vielleicht im Taumel der Leidenschaft war.
Und einen atemlosen Moment lang hatte sich Hayden vorgestellt, dass er diesen Blick auslöste, dass er diese starke, großartige Frau dazu brachte, ihre Zurückhaltung aufzugeben.
Aber jetzt waren solche Gedanken tabu. Shirley weinte. Er wusste, was die Mondschein-Sonate bedeutete. Zuletzt hatte er sie auf der Beerdigung ihrer Mutter gehört, und er erinnerte sich daran, wie klein und allein Shirley damals ausgesehen hatte.
Heute Abend war sie wieder ein vierzehnjähriges Mädchen, das seine Mutter brauchte, und Hayden legte den Arm um Shirley und zog sie sanft an seine Schulter.
Dass sie sich bereitwillig an ihn lehnte, verriet ihm viel darüber, wie sie sich fühlte. Sie blieben für das ganze Stück so sitzen. Hayden spürte die Blicke der Leute, doch es kümmerte ihn nicht. Er drückte die Lippen an ihre Schläfe und hielt Shirley beschützend fest.
Der Schlusssatz verklang. Im Publikum war es völlig still, bis der Pianist aufstand und sich verbeugte, dann brachen die Leute in lauten Beifall aus.
„Shirley …“, sagte Hayden in den Lärm.
Zitternd presste sie sich an ihn. Er gab ihr einen Moment, lieh ihr Schutz, lieh ihr seine Kraft. Überrascht, dass er noch welche übrig hatte.
Nur musste einer von ihnen schließlich handeln. Hayden räusperte sich. „Shirley …“
Diesmal zog sie sich zurück. Ihre helle Haut war stark gerötet.
„Bist du okay?“
Sie sprang auf. Genug Zuhörer waren auf den Beinen, um den hervorragenden Pianisten zu feiern, sodass Hayden und Shirley ohne allzu großes Aufsehen gehen konnten.
„Bist du okay?“, wiederholte er, sobald sie im Foyer waren. Im Saal begann ein neues Stück.
„Ja.“ Sie nahm eine Serviette von
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