Julia Extra Band 371
aufwartete, hängte Natasha einfach ein und ging ins Schlafzimmer. Sie ließ sich auf die Bettkante sinken und grübelte darüber nach, wieso alles so falsch lief. Letztes Jahr um diese Zeit hatte das Leben so rosig ausgesehen. Sie hatte das Examen bestanden und sofort eine Anstellung als Lehrerin gefunden, sie war mit einem Mann ausgegangen, den sie wirklich mochte, und sie hatte gespart, um aus dem Elternhaus ausziehen zu können. Und sie hatte sich darauf gefreut, bald die Brautjungfer bei der Hochzeit ihres Bruders zu sein.
Innerhalb eines Jahres war alles zusammengefallen.
Als Grundschullehrerin hatte man ihr nach Ablauf des Jahresvertrags gerade eine Festanstellung angeboten, als ihre Eltern bei dem Autounfall ums Leben kamen. Sie hatte gewusst, dass sie in ihrer Trauer niemals die Verantwortung für eine eigene Schulklasse übernehmen könnte, und so hatte sie die Stelle abgelehnt. Seither schlug sie sich als Aushilfslehrerin durch. Das Testament der Eltern hatte bestimmt, dass das Elternhaus verkauft werden und der Erlös zu gleichen Teilen an die beiden Kinder gehen sollte. Mark hatte seinen Anteil haben wollen und darauf gedrängt, dass alles schnellstmöglich abgewickelt werden sollte. Es war die pure Hölle gewesen. Jason, ihr Freund, war ihr keine große Hilfe gewesen. Er hatte ihr weder Trost noch Unterstützung geboten, sondern sich einfach nur unwohl gefühlt. Letztendlich war Natasha froh gewesen, die Beziehung zu beenden.
Und so saß sie also nun ein Jahr später hier, in einem kleinen Haus, das sie für sich gekauft hatte, in dem sie sich aber noch immer nicht eingelebt hatte, und führte ein Leben, das ihr wie das einer anderen vorkam.
Trübsal blasen änderte aber nichts, und so ging sie in die Küche und genehmigte sich eine Tasse Kaffee, bevor sie ein Taxi bestellte, um zum Friedhof zu fahren. Sie konnte es einfach nicht über sich bringen, jetzt auch noch in der Kälte auf den Bus zu warten.
Auf dem Friedhof starrte Natasha auf den Grabstein. Sie hasste es, hierher zu kommen. Sollte es den Angehörigen nicht Frieden bringen? Tat es nicht. Sie fühlte nur Wut über die Ungerechtigkeit, dass ihre Eltern viel zu früh hatten sterben müssen.
Nach Hause nahm sie dann doch den Bus und wärmte sich mit einem langen Bad auf. Gestern, als sie noch für einen Urlaub geplant hatte, hatte sie ihre gesamte Garderobe auf dem Kleiderschrank gezogen, um zu überlegen, was sie mitnehmen sollte. Jetzt machte sie sich daran, das Chaos wieder aufzuräumen. Dabei wanderten ihre Gedanken automatisch zu der Begegnung mit Rakhal zurück, und sie erlaubte es sich, ein wenig zu träumen.
Was, wenn sie seine Einladung angenommen hätte?
Was trug man überhaupt zu einem Dinner mit dem Kronprinzen von Alzirz? Nun, sicherlich nichts von dem, was in ihrem Kleiderschrank hing. Obwohl … da hing es noch immer, eingepackt in eine schützende Plastikhülle – das Brautjungfernkleid für Marks und Louises Hochzeit. Louise hatte die Hochzeit eine Woche vor dem festgesetzten Termin abgesagt. Mark war am Boden zerstört gewesen. Damals hatte er mit dem Glücksspiel angefangen – zumindest hatte er das Natasha gegenüber so dargestellt, als er sie um ihre Hilfe gebeten hatte. Inzwischen fragte sie sich, ob seine Spielsucht nicht der Grund gewesen war, weshalb Louise im letzten Moment die Reißleine gezogen hatte. Marks Hang zum Glücksspiel war schließlich nicht erst kürzlich aufgetreten.
Seit der Trennung hatte sie keinen Kontakt mehr zu Louise gehabt, dabei war sie wirklich nett gewesen. Natasha unterdrückte aber den Impuls, ihre Fast-Schwägerin anzurufen. Es war unnötig, sie mit Marks Problemen zu belasten.
Stattdessen nahm Natasha die Plastikhülle heraus und zog den Reißverschluss auf. Während sie das Kleid begutachtete, wünschte sie sich, alles hätte anders laufen können.
Ein goldenes Kleid, eine lange, schlicht geschnittene Röhre mit leicht ausgestelltem Saum und dünnen Spaghettiträgern. Um den vollen Effekt zu erzielen, gehörte eine Hochsteckfrisur dazu, Make-up und der passende Schmuck.
Um ihre Stimmung aufzuhellen, steckte sie sich das Haar auf dem Kopf fest, schminkte sich, so gut sie konnte, und schlüpfte in das Kleid. Als sie dann jedoch die Perlenkette ihrer Mutter anlegte und die passenden Ohrringe einsteckte, hätte sie fast doch noch zu weinen angefangen. Nur die Angst, dass sie dann nie wieder aufhören würde, hielt sie davon ab, den Tränen freien Lauf zu lassen.
Kritisch
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