Julia Extra Band 371
wie in einem Pflegeheim.
Callie schwor sich wieder einmal, alles zu tun, damit ihre Mutter hier bleiben konnte. Sogar, wenn „alles“ bedeutete, eine Woche lang mit Archer Flett zusammen in einem Haus zu wohnen.
Beim Gedanken daran, wie leicht er sie dazu bewogen hatte, verspannte sie sich unwillkürlich. Sich den Nacken reibend betrat sie, ohne anzuklopfen, das Zimmer ihrer Mutter. Hier klopfte niemand an. Die Tür stand immer offen, denn Besucher waren stets willkommen.
Energisch, humorvoll und lebhaft: mit diesen drei Wörtern hätte man Nora Umberto immer kurz und knapp charakterisieren können.
Die Vitalität ging nun leider stetig zur Neige, und Callie fragte sich oft schmerzlich, wie viel Zeit mit ihrer Mutter ihr noch vergönnt sein würde.
Ihr wurde die Kehle eng, während sie sich ein Lächeln abrang und zu ihrer Mutter ging. Nora saß im Rollstuhl und versuchte, mit ihren zittrigen Händen den Reißverschluss an ihrer Jacke zu schließen.
„Hallo, Mum? Wie geht’s?“, fragte Callie betont munter.
„Mir ging es ausgezeichnet, bis jemand die glänzende Idee hatte, mir heute das da anzuziehen. Knöpfe sind schlimm, aber so ein Reißverschluss ist nicht viel besser.“
Soll ich dir helfen? hätte Callie am liebsten gefragt, ließ es aber bleiben. Ihre Mutter hasste es, wie eine Invalidin behandelt zu werden, und nahm Hilfe nur an, wenn es nicht anders ging.
Callie setzte sich und versuchte, nicht auf die mühsamen Bewegungen ihrer Mutter zu achten.
„Nächste Woche bin ich nicht da, Mum!“
Ihre Mutter wurde sofort munterer. Sie liebte es, Geschichten über Callies Unternehmungen zu hören, auch wenn die sich meistens auf Essen und Tanzen im Rivera beschränkten. Callie schmückte ihre Berichte oft aus, damit alles glamouröser klang, als es war.
„Fährst du auf Urlaub, Kind?“
„Nein, Mum, ich bin geschäftlich unterwegs. Nach Torquay.“
Der Name des Badeorts rief natürlich Bilder von sonnigen Stränden, herrlichen Wellen und sexy Surfern hervor.
Vor allem das Bild eines ganz besonders gut aussehenden Surfers, den sie vor Jahren an einem anderen sonnigen Strand kennengelernt hatte …
„Wirklich geschäftlich?“ Ihre Mutter lehnte sich so weit vor, dass sie beinah aus dem Rollstuhl gekippt wäre. „Du hast so ein Leuchten in den Augen.“
„Es ist ja auch eine tolle Aussicht, die Woche vor Weihnachten am Meer zu verbringen, Mum.“
„Heißt das, du bist Weihnachten nicht da?“ Das klang jetzt beinah verzagt.
Callie strich ihrer Mutter sanft über die Hand mit der papierdünn wirkenden Haut. „Zum Weihnachtsessen bin ich auf jeden Fall zurück. Ich möchte auf keinen Fall den Truthahn mit Preiselbeerfüllung verpassen, den sie hier servieren.“
Ihre Mutter lachte leise. „Es würde mir nichts ausmachen, auf dich zu verzichten, wenn ich wüsste, dass du Weihnachten mit einem heißen Typ verbringst. Aber Arbeit ist kein Entschuldigungsgrund.“
Ironischerweise ging es darum, für einen heißen Typ zu arbeiten! Nach einer Woche bin ich bestimmt froh, sowohl den Job als auch den Auftraggeber hinter mir zu lassen, dachte Callie und stand auf.
„Tut mir leid, Mum, dass ich heute nur so kurz bleibe, aber ich muss nach Hause und meine Sachen packen. Morgen geht es sehr früh los.“
Überraschenderweise nahm ihre Mutter sie bei der Hand und drückte diese. So fest sie konnte.
„Vergiss nicht, dich auch ein bisschen zu amüsieren, Callie. Das Leben ist kurz, wie du weißt.“
„Klar, Mum.“ Tränen brannten Callie plötzlich in den Augen, aber sie schaffte es, nicht zu weinen. „Ruf mich an, wenn du etwas brauchst.“
„Ach, ich bin schon in Ordnung“, versicherte ihre Mutter und ließ ihre Hand los. „Und nun ran an die Arbeit – und ins Vergnügen.“
Nur an die Arbeit, sagte Callie sich, als sie das Zimmer verließ. Sich mit Archer zu vergnügen wäre nicht ratsam. Das wusste sie aus Erfahrung.
Archer hatte es nicht nötig, mit Frauen zu spielen. Und so wie Callie gestern auf ihn reagiert hatte, war es besser, sich ihr gegenüber möglichst neutral zu verhalten. Trotzdem hatte er für die gemeinsame Fahrt nach Torquay ein feuerrotes Cabrio gemietet. So einen Wagen hatte er auch damals in Italien gefahren. Ob sie sich noch daran erinnerte? Bestimmt. Aber würde sie ihn darauf ansprechen?
Eher nicht, sagte er sich, als er Callie auf sich zukommen sah, die Stirn leicht gerunzelt und die Lippen zusammengepresst. Das sorglose fröhliche Mädchen von damals war
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