Julia Extra Band 371
psychologischer Betreuung auch Krankengymnastik, Ergotherapie, Sprechtraining und Schmerztherapie.
Das einzig Tröstliche in der schrecklichen Situation bestand in der Tatsache, dass die Sinne und die geistigen Fähigkeiten von der Krankheit nicht beeinträchtigt wurden. Es kam also nicht zu einer Demenz wie bei Alzheimer, sondern die Patienten waren bis ans Ende bei klarem Verstand und erkannten ihre Umwelt.
Und ihre Angehörigen.
Beim Gedanken an den drohenden Tod ihrer Mutter war Callie oft verzweifelt und hatte nachts stundenlang geweint. Ansonsten zwang sie sich zu Tapferkeit.
Ihr Stress wurde noch wesentlich schlimmer, als sie von den Ärzten erfuhr, es bestehe eine Wahrscheinlichkeit von fünfzig Prozent, dass sie die Krankheit geerbt hatte, die von einem defekten Gen verursacht wurde.
Danach hatte sie wieder viele schlaflose Nächte, bis bei ihr die relevanten Tests gemacht wurden. Sie war fast krank vor Sorge, als die Ergebnisse endlich eintrafen – und zum Glück bewiesen, dass sie ganz gesund war.
Die Sorge hatte daraufhin augenblicklich Schuldgefühlen Platz gemacht, weil sie verschont geblieben war, ihre Mutter aber nicht.
In dieser Zeit war die Selbsthilfegruppe von unschätzbarem Wert gewesen. Vor allem wegen Artie, der ebenso frustriert und zornig war wie sie. Er hatte gerade seine Frau verloren, mit der er vierzig Jahre verheiratet gewesen war.
Bei Espresso und Keksen hatten Callie und er sich angefreundet und sich allmählich gegenseitig eingestanden, wie sehr sie die heimtückische unheilbare Krankheit hassten, der die Patienten hilflos ausgeliefert waren.
Nach einigen Treffen hatte Artie sie in sein Lokal Rivera eingeladen, das für Callie sofort ein zweites Zuhause geworden war.
Sie liebte den abgetretenen alten Holzfußboden, den großen Tresen aus Mahagoni an der hinteren Wand und die weinrote Tapete. In der behaglichen Umgebung blieben die Gäste gern länger bei Sangria und köstlichen Tapas sitzen.
Nach und nach hatte Callie gespürt, wie der Eispanzer um ihr Herz schmolz, den sie sich zugelegt hatte, weil das Schicksal ihrer Mutter so übel mitspielte. Am liebsten hatte sie die Abende, wenn Artie spanische Musik auflegte und allen Gästen, die Lust hatten, spanische Tänze beibrachte. Dann konnte sie vergessen, wie sehr sich ihr Leben verändert hatte, seit sie von der Krankheit ihrer Mutter wusste.
Nun ging Callie zwischen den Tischen zum Tresen und begrüßte unterwegs Bekannte. Mit jedem Schritt wurde ihr leichter ums Herz. Artie winkte ihr zu und deutete auf ihren Stammplatz.
„Hungrig, querida ?“, fragte er.
An sich war sie viel zu nervös, um an Essen zu denken, aber wenn sie ablehnte, würde er wissen, dass irgendetwas nicht stimmte. Darüber wollte sie allerdings nicht reden. Nicht, nachdem sie den fünfzehnminütigen Spaziergang hierher damit verbracht hatte, die Gedanken an Archer zu verdrängen.
Oder es wenigstens zu versuchen.
„Ich hätte gern die Spezialität des Tages“, antwortete Callie.
„Kommt sofort.“ Artie zwinkerte ihr zu und lud marinierten Oktopus, gefüllte Oliven, gegrillten Tintenfisch und hauchdünne Schinkenscheiben auf einen großen Keramikteller.
Dann machte er ihr den üblichen Espresso und stellte alles vor sie hin.
„Möchtest du vor oder nach dem Essen über dein Problem reden?“, erkundigte Artie sich beiläufig.
Sie wollte ihn abwimmeln, aber sie erkannte an seinem Blick, dass er nicht locker lassen würde, bis er die Wahrheit kannte.
„Ach, da gibt’s nichts Besonderes zu berichten“, versuchte sie es trotzdem.
„Hör mal, querida , ich kenne dich jetzt seit sieben Jahren. Inzwischen bin ich älter geworden, aber mein Verstand ist noch so scharf wie Zorros Schwert.“ Er verschränkte die Arme auf dem Tresen. „Du weißt, dass ich hier nicht weggehe, bevor du mir alles erzählt hast.“
„Und was ist mit deinen anderen Kunden?“
„Um die kümmert sich das Personal. Dafür wird es schließlich von mir bezahlt.“ Er grinste. „Erzählst du mir jetzt deinen Kummer, oder muss ich dich erst mit meiner besten Sangria abfüllen?“
Callie hielt abwehrend die Hände hoch, obwohl das Angebot verführerisch klang. Ja, ein, zwei Glas Sangria würden ihr dabei helfen, nicht daran zu denken, dass sie morgen Archer nach Torquay begleiten musste. Trotzdem lehnte sie ab.
„Danke, Artie, aber ich muss morgen früh aufstehen und arbeiten. Also …“ Sie schob eine Olive auf dem Teller hin und her. „Heute habe ich mir
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