Julia Extra Band 372
eine Burg oder einen Gorillakäfig.
Als er J. C. sah, stürmte er auf ihn zu. „Onkel Jace, schau, was ich gemacht habe.“ Er zog J. C. mit sich auf den Boden und präsentierte ihm stolz sein Bauwerk.
„Ein schönes … Haus“, sagte J. C.
„Das ist doch kein Haus. Das ist eine Rakete“; erklärte Henry ernst, dann ließ er das Gebilde aufsteigen und rannte damit durchs Zimmer, begleitet von entsprechenden Geräuschen.
„Henry, bitte, nicht so laut. Deine Grandma möchte ihren Film sehen.“ Während Anne Carson das sagte, blickte sie noch nicht einmal vom Fernseher auf. Henry nickte und setzte sich hin, um weiterzubauen. J. C. setzte sich in einen Sessel bei seiner Mutter. Ihm fiel ein, was Grace ihm vorgeworfen hatte: Er habe keinen Spaß mehr. Und es stimmte. Nur wusste sie nichts von dem ungeheuren Druck und der ungeheuren Verantwortung, die auf seinen Schultern lasteten. Da war neben der Firma auch seine Mutter, die nach dem Tod ihres Mannes jetzt auch noch den Tod ihrer Tochter und ihres Schwiegersohns bewältigen musste. Und vor allem war da noch das Schicksal seines zum Waisen gewordenen Neffen. An manchen Tage fürchtete J. C., unter dieser Last zusammenzubrechen. Doch er war der Fels, der allen anderen Halt gab.
Da war kein Platz für Spaß wie eben in der Mistelzweig-Bahn. Wie nur hatte das geschehen können?
Aus purer Unvernunft , antwortete er sich selbst. Er hatte sich mitreißen lassen von der Stimmung des Augenblicks, sich wieder wie mit achtzehn gefühlt.
Und dann hatte Grace sich losgerissen und war gegangen.
Wie sie nach Weihnachten auch Beckett’s Run verlassen würde. Dabei brauchte er jetzt nichts so sehr wie Stabilität und Sicherheit in seinem Leben. Genau das aber konnte Grace ihm nicht geben.
Seine Aufmerksamkeit kehrte zu seiner Mutter zurück. „Was gibt es zum Abendessen, Mom?“
„Sandwiches.“
So konnte es nicht weitergehen. „Henry, willst du mir einen Gefallen tun? Geh doch nach oben und mal ein Bild mit einem Pferd für Grace, ja? Damit machst du ihr bestimmt eine riesige Freude.“
„Oh ja! Ich male das Pferd aus dem Zoo. Vor dem hat Grace nämlich auch Angst. Weil das macht so komische Geräusche.“ Henry stürmte begeistert hinaus.
J. C. stellte sich vor den Fernseher, und seine Mutter stöhnte auf. „Mom, wir müssen reden.“
„Aber ich schaue gerade einen Film.“
„Wie wäre es, wenn du stattdessen mal nach deinem Enkel schauen würdest?“ Solange ihre Tochter noch lebte, war Anne Carson eine begeisterte Oma gewesen und mit Henry in den Park und auf den Spielplatz gegangen. Doch seit dem Autounfall, dem Henrys Eltern zum Opfer gefallen waren, kümmerte sich Anne kaum noch um ihn.
„Dem geht’s doch gut.“
„Tut es nicht“, entgegnete J. C. „Er braucht eine Oma, die sich mit ihm beschäftigt. Die ihm nicht immer nur Sandwiches vorsetzt. Die seine Rakete bewundert und ihm sagt, dass es die schönste Rakete ist, die sie je gesehen hat.“ All das hatte seine Mutter für ihn gemacht, als er noch klein war. Sie hatte ihn in allem ermuntert und sogar seine Musikstunden von ihrem Haushaltsgeld bezahlt. Sie hatte mit J. C. und seiner Schwester Ostereier bemalt und an Sommernachmittagen mit ihnen im Wohnzimmer Höhlen gebaut. Bis zu Emilys Tod hatte seine Mutter die Familie zusammengehalten. Und jetzt schien sie selbst jeden Tag ein wenig mehr auseinanderzufallen.
„Aber das mache ich doch alles.“ Sie versuchte, an ihrem Sohn vorbei einen Blick auf den Fernseher zu werfen.
„Das stimmt nicht. Und das weißt du genau. Der arme Henry erfährt es leider jeden Tag aufs Neue. Er braucht dich, Mom. So wie …“, J. C. schluckte schwer, ehe er fortfuhr, „ich dich gebraucht habe, als ich so alt war.“
All die unausgesprochenen Erinnerungen hingen in der Luft. An den harten, fordernden, kalten Vater, dessen Wirkung auf die Kinder durch die warmherzige Anne und ihre Zärtlichkeit gemildert worden war. J. C. hatte sich oft gefragt, was ohne ihre Mutter aus ihm und seiner Schwester geworden wäre. Sie hatte ihnen ihre schwere Kindheit erträglich gemacht.
Und gleichzeitig wusste er, wie sehr Anne ihren Mann geliebt hatte – mit einer Unbedingtheit, die J. C. oft beneidet hatte. Nur bei Anne hatte sein Vater manchmal Schwäche gezeigt, als ob er sich nur bei ihr ganz sicher fühlte.
Seine Mutter sah ihn an. „Ich versuche ja schon, mich zusammenzureißen, J. C. Wirklich.“
„Das weiß ich doch. Nur hilft es weder Henry noch dir, wenn du
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