Julia Extra Band 373
schlecht über die Schulter werfen, nach Whistle Creek schleppen und sie so lange gefangen halten, bis sie sich wieder in ihn verliebte.
Obwohl ihm das keine schlechte Lösung schien.
„Sie kommt zurück.“
Reed drehte sich um und sah einen älteren Mann auf der Bank hinter sich sitzen. Er trug eine Weihnachtsmannmütze, ein grün kariertes Flanellhemd und – Himmel hilf! – Elfenschuhe mit aufgebogenen Spitzen. „Das glaube ich eher nicht.“
Der alte Mann tätschelte der Frau neben ihm, die den gleichen Hut trug und in ihrem Rollstuhl eingeschlafen war, die Hand und zog dann das Plaid vorsichtig höher über ihre Brust. „Mein Elsie hat das Gleiche mit mir gemacht. Dreimal hat sie meinen Antrag abgelehnt. Doch ich habe nicht lockergelassen, und im Januar sind wir jetzt schon zweiundfünfzig Jahre verheiratet.“
Reed lächelte. „Herzlichen Glückwunsch.“
„Wissen Sie, was unerlässlich ist?“ Der Alte lehnte sich vor, und der weiße Pompon seiner Mütze schlug ihm gegen die Stirn. „Geduld. Viel Geduld. Frauen sind … schwierig. Meistens habe ich nicht die geringste Ahnung, was Elsie denkt, aber ich versuche dennoch, sie zu verstehen. Weil ich sie liebe. Verstehen Sie, was ich damit sagen will?“
Reed lachte leise. „Ich weiß, was Sie meinen.“
Der Mann erhob sich, langsam und vorsichtig. Er kam nur einen Schritt vor, blieb nahe bei seiner Frau. „Vermutlich sollte ich mich vorstellen, wenn ich Ihnen schon meine Lebensgeschichte erzähle, was?“ Er streckte die Hand aus, und Reed schlug ein. „Jeremiah Wilson. Elsie und ich sind auf dem Weg nach Topeka. Wir wollen Weihnachten mit unseren Kindern und den Enkelkindern feiern.“ Zärtlich sah er auf seine schlafende Frau. „Unsere letzte Reise. Aber das habe ich ihr noch nicht gesagt.“
„Reed Hartstone“, stellte Reed sich vor. Er wunderte sich über den Kommentar des alten Mannes, wollte aber nicht neugierig sein. „Ich sollte eigentlich im Flieger nach Boston sitzen, um an einem Meeting teilzunehmen.“ Er sah auf die Uhr. Halb vier. „Vermutlich ist längst alles gelaufen.“
Jeremiah schmunzelte. „Ich war selbst auch im Management, aber seit zwanzig Jahren bin ich im Ruhestand. Jetzt kann ich jeden Tag mit Elsie zusammen sein. Für mich gibt es nichts Schöneres.“ Die Liebe für seine Frau stand deutlich in seinem Gesicht zu lesen. „Wissen Sie, die Liebe erinnert mich immer an einen Weihnachtsbaum.“
„Weihnachtsbaum?“ Fragend zog Reed die Brauen zusammen.
„Überlegen Sie mal … Da haben Sie ein genaues Bild von Ihrem Weihnachtsbaum im Kopf – prächtig geschmückt, strahlende Kerzen und ganz oben die glitzernde Spitze. Dann gehen Sie raus und kaufen einen, und noch bevor alle Kugeln hängen, fängt er schon an zu nadeln. Die Spitze sitzt schief und lässt sich nicht richten, und an der Lichterkette brennt nur jede zweite Kerze. Habe ich nicht recht?“
Reed nickte lachend. „Ja, das kenne ich.“
„Dann denkt man sofort, dass der Baum überhaupt nichts mit der eigenen Vorstellung gemein hat.“ Er drehte sich zu seiner Frau um. „Aber wenn man den Baum dann genauer ansieht, stellt man fest, wie schön er mit seinen Macken doch ist. Die ganze Arbeit macht aus Weihnachten erst etwas Besonderes. Hätte man den perfekten Baum, würde man vielleicht einmal hinsehen, zweimal vielleicht, bevor man ihn für selbstverständlich hält und vergisst. Aber der eine, der, um den man sich jeden Tag kümmern muss, der ein gutes Auge und liebevolle Fürsorge braucht … der ist mehr wert als alles Gold in Fort Knox.“
Ein Kloß saß Reed in der Kehle. Er beneidete den alten Mann um die Liebe, die er für seine Frau empfand und die sein ganzes Leben erfüllt hatte. Was, wenn Reed vor all den Jahren mehr Energie aufgebracht hätte, um die Sache zwischen ihm und Marietta zu retten? „Sie sind ein weiser Mann, Mr Wilson.“
„Ach, die Weisheit kommt zusammen mit den Falten.“
„Sie sagten, es sei Ihre letzte Reise nach Topeka. Darf ich fragen, warum?“
Jeremiah schwieg lange, den Blick auf einen Punkt in der Ferne gerichtet. Reed bereute es, die Frage gestellt zu haben, wollte sich schon entschuldigen, doch da hob Jeremiah mit einem schweren Seufzer zu sprechen an.
„Ich sterbe. Krebs. Der Sauhund ist wieder zurückgekommen. Bis jetzt habe ich nicht das Herz gehabt, es Elsie zu sagen. Ich bringe sie nach Topeka, wir ziehen zu den Kindern. Dann hat sie jemanden, der sich um sie kümmert, wenn ich nicht mehr
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