Julia Extra Band 373
in ihr zu lesen, wie in einem Buch.
Ava erzählte ihm von dem Brief in ihrer Hand. „Ich habe Angst, ihn zu öffnen. Bella hat angedeutet, der Inhalt könnte mich enttäuschen.“
„Ich könnte ihn öffnen“, schlug Vito vor.
Das fehlte noch, dachte Ava, schlitzte entschlossen den Umschlag auf und zog einen Briefbogen hervor, der Bellas akkurate Handschrift trug.
Ava,
es tut mir so leid, viel mehr, als du dir vorstellen kannst. Ich habe mein Leben verpfuscht, und nun habe ich auch deins zerstört. Entschuldige, dass ich es nicht ertragen konnte, dich an dem Ort da zu besuchen oder dich hier im Krankenhaus zu sehen, falls man dir einen Besuch genehmigt hätte. Aber ich konnte dir nicht in die Augen sehen. Was geschehen ist, ist geschehen. Ich kann es nicht mehr ändern. Ich wollte meine Ehe retten. Das war mir immer am wichtigsten. Was ich zuletzt getan habe, hätte sie endgültig zerstört. Ich liebe dich, aber selbst jetzt habe ich Angst, dir die Wahrheit zu sagen. Du würdest mich hassen.
Mit Tränen der Enttäuschung in den Augen reichte Ava den Brief an Vito weiter. „Ich habe keine Ahnung, wovon sie spricht“, sagte sie frustriert. „Gina meinte, Mum wäre verwirrt gewesen.“
Vito überflog die Zeilen und schob den Brief zurück in den Umschlag. „Offensichtlich hat deine Mutter sich große Vorwürfe darüber gemacht, wie sie dich behandelt hat“, vermutete er.
„Sie dachte wohl, ich würde sie hassen, wenn ich erfahre, dass ich nicht das Kind ihres Ehemannes bin. Aber auch das ist reine Spekulation. Vielleicht hat sie etwas ganz anderes gemeint.“
Beruhigend strich Vito ihr über den Rücken. „Es ist müßig, darüber nachzudenken, bella mia . Wenn deine Schwestern auch keine Ahnung haben, was der Brief zu bedeuten hat, wirst du es nie herausfinden.“
Er ist immer so pragmatisch, dachte Ava frustriert. Im Gegensatz zu ihr. Die Frau, die ihr diesen Brief geschrieben hatte, war ihre Mutter und seit achtzehn Monaten tot. Allein diese Tatsache machte Ava zu schaffen.
Vitos Handy klingelte. Entschuldigend hob er die Schultern und nahm das Gespräch an.
Ava ging zum Fenster und blickte hinaus auf die weiße Zauberlandschaft, bis Vito den Anruf schließlich beendete.
„Ich fürchte, ich habe noch etwas zu erledigen“, sagte er ausdruckslos.
„Ich wollte sowieso noch einen langen Spaziergang mit Harvey machen“, behauptete Ava, nicht ganz wahrheitsgemäß. Aber sie wollte unbedingt ihre Unabhängigkeit demonstrieren.
10. KAPITEL
In der großen Eingangshalle stapelten sich Kisten voller Weihnachtsdeko. Ava stand auf einer Trittleiter und dekorierte den Baum. Es hatte länger gedauert als erwartet, die prachtvolle Tanne zu fällen, zum Schloss zu bringen und aufzustellen. Deshalb hinkte Ava jetzt ihrem Zeitplan hinterher. Zumal sie den gesamten Dachboden hatte absuchen müssen, bevor sie auf die Kiste mit den elektrischen Kerzen gestoßen war. Nach der Tragödie, die die letzte Weihnachtsparty vor drei Jahren überschattet hatte, war der Baumschmuck sehr achtlos verstaut worden. Leider waren dabei einige besonders hübsche Anhänger zerbrochen.
Wehmütig dachte Ava daran, wie viel Spaß Olly und sie damals beim Schmücken des Baums gehabt hatten. Bei Olly musste immer alles ganz perfekt sein. Immer wieder hatte er Anhänger umgehängt, bevor er mit dem Gesamterscheinungsbild zufrieden gewesen war. Olly hatte Weihnachten geliebt. Im Gegensatz zu seinem älteren Bruder.
Wie sollte Vito dem Fest auch etwas abgewinnen, wenn seine Mutter eines Tages kurz vor Weihnachten ihn und seinen Vater verlassen und sein Vater sich seitdem standhaft geweigert hatte, je wieder Weihnachten zu feiern? Und dann war auch noch Olly am Tag der Weihnachtsparty für immer gegangen. Armer Vito!
In der vergangenen Nacht war Vito neben ihr ins Bett gefallen und hatte keine Anstalten gemacht, ihr auch nur einen Gutenachtkuss zu geben. Das hatte Avas Selbstbewusstsein, unwiderstehlich zu sein, einen empfindlichen Dämpfer verpasst. Sie fragte sich, ob ihr kompliziertes Familienleben zu viel für Vito war und er sie gleich nach der Party vor die Tür setzen würde.
Ihr Handy klingelte.
„Hier ist Vito. Ich habe die nächsten beiden Tage in London zu tun und übernachte in meinem Apartment. Ach ja, übermorgen hast du eine Besprechung. Bist du morgens im Haus?“
„Was für eine Besprechung? Mit wem? Worüber?“ Sie war enttäuscht, Vito so lange nicht zu sehen, versuchte aber, ihre Gefühle zu überspielen.
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