Julia Extra Band 374
ungepflegtes Heim für Jungen, in dem die Angestellten oft grausam waren. Als die Tür aufgestoßen wurde, machte er sich aufgeregt und voller Hoffnung darauf gefasst, seine neuen Eltern kennenzulernen.
Was hatten die Betreuer, die in dem Raum auf ihn warteten, über seine Tränen gelacht! Wie sie ihn verspottet und bis spät in die Nacht Spaß an ihrem kleinen Streich gehabt hatten! Wie hatte er bloß glauben können, dass irgendein Ehepaar ihn adoptieren wollte?
Seitdem hatte Niklas nie wieder geweint. Nie wieder ein echtes Gefühl gezeigt.
Er würde den Aufsehern nicht dieselbe Freude bereiten, ganz gleich, was sie mit ihm vorhatten. Sie würden ihm nichts vom Gesicht ablesen können.
Aber dann sah er sie.
Dass tatsächlich Meg auf ihn warten könnte, war ihm nicht in den Sinn gekommen.
Sie gehört nicht hierher. Das war sein erster Gedanke, als er sie in dem Leinenkleid sah. Ihr Haar leuchtete gold- und kupferfarben wie die untergehende Sonne, die abends durch das Zellenfenster schien. Die Angst in ihren Augen verwandelte sich in Entsetzen, während sie seinen geschorenen Kopf und die Häftlingskleidung in sich aufnahm. So vor ihr zu stehen, erfüllte Niklas mit tiefer Scham, und für eine Sekunde entglitt ihm sein Mienenspiel.
Er blickte starr nach vorn, während ihm die Handschellen abgenommen wurden. Seine Gedanken rasten. Zu seiner Linken stand Andros, der Vollzugsbeamte, dem er am wenigsten traute. Und wieder dachte Niklas, dass Meg nicht hierher gehörte. Wer hatte das organisiert? Wer hatte diesen Besuch genehmigt? Auch wenn er eingesperrt war, er hatte immer noch ein System. Alle Entscheidungen mussten über ihn laufen, das hatte er Miguel eingeschärft.
Jetzt kam Meg auf ihn zu, und Niklas hörte die panische Angst aus ihrer Stimme heraus, als sie sprach.
„Ich habe dich so vermisst.“
Sie spielte eine Rolle. Er kapierte das. Aber als sie ihn auf die Wange küsste, war es unwichtig. Die Berührung war für ihn der erste schöne Sinneseindruck seit Monaten. Ihre Haut an seiner Wange war so weich und zart, dass ihn der Kontakt wirklich erschütterte.
Niklas wollte das Wie und Warum wissen, er wollte wissen, was eigentlich vorging. Seine erste Reaktion war jedoch, Meg zu beschützen. Und das bedeutete, dass er mitspielen musste, denn Andros beobachtete ihn.
Es war ein Kuss für andere, und Niklas versuchte, es dabei zu belassen. Nur konnte er nicht genug von ihr bekommen. Das Gefühl, sie in seinen Armen zu halten, ließ ihn die Wirklichkeit vorübergehend vergessen. Meg war es, die sich zurückzog.
Ihr Gesicht war gerötet, vor Scham und Wut hatte sie Tränen in den Augen. Sie presste die Lippen zusammen, als einer der Aufseher etwas sagte, und der andere laut lachte. Eine Tür wurde geöffnet, und sie gingen in einen kleinen, schlicht eingerichteten Raum. Bevor er die Tür hinter ihnen schloss, schrie ihnen der Aufseher etwas zu. In welcher Sprache, war egal, Meg wusste, dass es etwas Geschmackloses war.
Sie stand da und erkannte, dass sie nicht länger stehen konnte. Mitgenommen setzte sie sich auf einen Stuhl.
Es war nicht nur der Schock, Niklas mit geschorenem Kopf und in Häftlingskleidung zu sehen. Selbst so war er noch immer der schönste Mann, den sie jemals zu Gesicht bekommen hatte. Es war nicht nur der Schock, wieder von ihm geküsst zu werden. Es war alles: Die Reise hierher, die Armut in den Straßen, durch die sie gefahren war, der Anblick des Gefängnisses mit dem Wachturm, die Pistolen der Vollzugsbeamten und die beschämende Durchsuchung.
Und nach allem, was sie durchgemacht hatte, war sie trotzdem unglaublich froh, wieder mit Niklas zusammen zu sein. Wie kann das sein? fragte sich Meg. Sie wollte über ihn hinweg sein, musste es, um nicht verrückt zu werden, deshalb blickte sie ihn jetzt nicht an.
Niklas beobachtete sie und sah, dass sie einen Schock hatte, sah, was allein schon eine kurze Zeit an diesem Ort ihr angetan hatte. Wieder dachte er, dass sie nicht hierher gehörte.
„Warum?“ Er kniete sich neben sie. „Warum bist du gekommen?“, flüsterte er rau.
Sie antwortete nicht.
„Warum?“, fragte er schärfer, und da blickte sie ihn an. Ihre grünen Augen funkelten vor Wut.
„Offenbar hast du ein Anrecht auf mich“, stieß sie verbittert hervor.
Als er sie kennengelernt hatte, war sie ängstlich, aber guter Dinge gewesen. Niklas wusste, dass er eine unglückliche Frau aus ihr gemacht hatte. Er konnte ihr die Qual und Empörung von den Augen ablesen,
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