Julia Festival 94
Schritt getan, oder war es Misty gewesen? Sekunden später lagen sie sich in den Armen, lachten und weinten und wussten vorübergehend nicht, was sie sagen sollten. Dann führte Misty Ione zu einem Sportwagen, drängte sie einzusteigen, und fuhr mit ihr zum Schloss.
Leone und Alexio hatten sich inzwischen miteinander bekannt gemacht, aber keiner hatte gewagt, die beiden Schwestern zu stören.
„Da fahren sie hin“, meinte Leone und sah dem Wagen kopfschüttelnd nach. „Sie haben uns tatsächlich vergessen.“
Während sie ihnen zu Fuß folgten, rückte Leone mit der Nachricht heraus, dass es noch eine dritte Schwester namens Freddy gebe – eine Tochter aus Caroline Carltons erster Ehe, die inzwischen mit dem Kronprinz von Quamar verheiratet sei. „Sie redet so gern und so viel wie Misty“, setzte er hinzu. „Misty hat sie schon vor Tagesanbruch angerufen. Ihr werdet sie also auch bald kennenlernen.“
„Je mehr, umso lustiger“, entgegnete Alexio. „Ione ist in dieser Hinsicht nicht verwöhnt worden.“
„Minos Gakis“, sagte Leone nachdenklich vor sich hin. Er hatte inzwischen begriffen, wer Iones Adoptivvater war, und Alexios grimmiges Gesicht bestätigte es ihm. „Was hältst du von einem guten Lunch?“
„Später“, meinte Alexio, und dabei umspielte ein mutwilliges Lächeln seinen Mund. „Stören wir die beiden nicht. Irgendwann werden sie uns schon vermissen.“
Misty und Ione saßen dicht nebeneinander auf einer Couch im Wohnzimmer. Sie hatten eine große Kanne Kaffee geleert und erinnerten sich erst an ihre verlassenen Ehemänner, als der alte Murdo hereinkam, um zum Lunch zu bitten und zu fragen, ob der Hausherr und Mr. Christoulakis daran teilnehmen würden. Die Schwestern sahen sich bei der Frage betroffen an und brachen dann in verlegenes Lachen aus.
„Hast du Leone schon einmal so vergessen?“, fragte Ione ihre Schwester.
„Nein“, gestand Misty. „Niemals, und er wird wütend sein. Wie steht es mit Alexio?“
„Er wird zumindest schlechte Laune haben“, mutmaßte Ione, aber Murdo versicherte, Mr. Andracchi und Mr. Christoulakis hätten sich nur kurz im Schloss aufgehalten und seien dann mit dem Jeep weggefahren.
Die Schwestern atmeten auf. Der Rest des Vormittags verging mit Mistys Bericht über Caroline – ihre Mutter – und ihre traurige Affäre mit Oliver Sargent – ihrem Vater, Ione erfuhr zu ihrem Erstaunen, dass sie noch eine zweite Schwester hatten, die durch Misty bereits in alles eingeweiht hatte.
Der Nachmittag wurde größtenteils dem kleinen Connor gewidmet, Ione konnte ihn nicht oft genug auf den Schoß nehmen und dabei Mistys Erzählungen lauschen, die ihr eine bisher unbekannte Welt erschlossen.
Abends stand Ione am Fenster ihres Schlafzimmers und sah zu, wie die Sonne in leuchtenden Farben über dem See unterging. Eine nie zuvor gekannte Zufriedenheit erfüllte sie. Alexio und Leone waren rechtzeitig zum Dinner von ihrem Ausflug zurückgekehrt und hatten sich während des Essens von ihrer heitersten Seite gezeigt. Jetzt legte Alexio beide Arme um Ione und drehte sie zu sich herum.
„War es ein schöner Tag?“, fragte er lächelnd.
Ione sah ihm in die dunklen Augen, die so wunderbar strahlen konnten. „Ein Tag wie im Himmel.“
„Wir sollten uns hier oben ein Haus kaufen.“
Ione dachte einen Augenblick nach und entschied, dass es an der Zeit war, offen mit Alexio zu sein.
„Wir brauchen uns kein Haus zu kaufen“, sagte sie. „Ich habe Cosmas’ Londoner Villa geerbt, und meine Adoptivmutter hat mir ‚Caradore Park‘, den Landsitz ihrer Eltern, vermacht. Ich habe beide noch nie gesehen, aber Minos benutzt sie, wenn er in England ist.“
Alexio ließ Ione langsam los, er war sehr still geworden. „Und du hast es bisher nicht für notwendig gehalten, diese Erbschaft zu erwähnen?“
Ione wich seinem Blick aus und zuckte die Schultern. „Ich hielt es nicht für so wichtig. Weißt du was? Ich werde jetzt ein Bad nehmen.“
Sie wollte im angrenzenden Badezimmer verschwinden, aber Alexio war vor ihr an der Tür. „Dahinter steckt mehr, nicht wahr?“, fragte er scheinbar ruhig.
Ione spürte die wachsende Spannung. „Mum und Cosmas haben mir alles hinterlassen.“
Alexio schien zu wissen, was „alles“ bedeutete, denn er rührte sich nicht und verfiel in längeres Schweigen.
„Du wirst dein Erbe wohl in einen Treuhandfonds für unsere Kinder einbringen?“
Wieder herrschte Stille, bis Ione kaum hörbar antwortete:
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