Julia Festival 94
dass Ione der Verzweiflung nah war. Sie hatte in den letzten Minuten so viele verschiedene Empfindungen verspürt, dass kaum noch etwas blieb, woran sie sich halten konnte. Sie hatte Alexio fälschlich beschuldigt und ihm nicht geglaubt. Wie war das möglich? Woher kam dieser Eifer, ihn auf den ersten Anschein hin zu verurteilen? Wie glücklich war sie in Paris gewesen … wie glücklich noch heute bei ihrer Ankunft in London. Was war bloß falsch gelaufen?
„Ich bin noch nie so glücklich gewesen“, erklärte sie mit Selbstüberwindung, „und vielleicht wollte ich nicht an dieses Glück glauben. Als Pascale sich absichtlich so missverständlich ausdrückte, war mir, als hätte ich nie etwas anderes von dir erwartet als Untreue und Betrug. Ich nahm es einfach hin. Es erschien mir wirklicher und vertrauter als alles Glück.“
Alexio blickte mit gerunzelter Stirn vor sich hin und wartete auf das, was noch kommen würde.
„Ich glaube, ich bin zynisch, aber nicht hochmütig. Ich bin in meinem Leben sehr verletzt worden und versuche, mich auf diese Weise zu schützen. Im Haus meines Adoptivvaters war Stolz meine einzige Waffe, und auch die konnte ich oft nicht benutzen, um mich nicht zu gefährden. Ich habe nicht gelernt, mich auf jemanden zu verlassen oder ihm zu trauen.“ Ione machte eine Pause und fügte leise hinzu: „Aber ich kann es lernen.“
Alexio dachte schweigend über Iones Worte nach. Er fühlte sich getroffen und begriff plötzlich, wie sehr er durch seine eigene zufriedene und unkomplizierte Kindheit geprägt war. Er beurteilte die Menschen nach seinen Maßstäben und übersah dabei, dass diese nicht für alle gültig waren. Sicherheit, Vertrauen, das Gefühl, geborgen zu sein, und sogar Liebe … Das alles hatte er auch bei Ione als selbstverständlich vorausgesetzt.
Mit zwei großen Schritten war er bei ihr und zog sie in die Arme. Sie erschrak über diesen plötzlichen Stimmungsumschwung und rührte sich nicht. „Ich will kein Mitleid …“
„Lässt du Leidenschaft gelten?“
Ein tiefer Seufzer kam aus Iones Brust. Sie schmiegte sich in Alexios Arme und ließ sich Stirn und Wangen küssen. „Dass ich dir das angetan habe“, flüsterte sie zwischendurch. „Du ahnst nicht, wie leid mir das tut.“
„Vergiss es einfach. Mir ist klar geworden, dass ich dir für den Anfang zu viel zugemutet habe. Eins musst du mir glauben, agápi mou. Ich habe dich nicht geheiratet, um mit anderen Frauen zu schlafen. Ich war jahrelang frei, zu tun und zu lassen, was ich wollte. Heute sehne ich mich nach etwas anderem. Verstehst du das?“
„Ja.“
Es klopfte, und Alexio stöhnte leise auf. „Wer, zum Teufel, kann das sein?“
„Wahrscheinlich der Etagenkellner mit meinem Essen …“
Alexio ließ Ione los und öffnete die Tür. Es war der Kellner. Er rollte einen Servierwagen herein, deckte auf dem kleinen Esstisch am Fenster und wurde mit einem großzügigen Trinkgeld entlassen.
„Ich muss dich wohl erst essen lassen“, meinte Alexio mit hörbarem Bedauern. „Ich weiß, dass du keinen Bissen zu dir genommen hast, seit du mit dem Flugzeug gelandet bist.“
„Wie kannst du das wissen?“, fragte Ione überrascht.
„Ich habe dich von meinem Londoner Büro aus verfolgen lassen. Wie hätte ich dich sonst so schnell finden können?“ Alexio sah sie ernst an. „Versprich mir, deine Leibwächter nie wieder zu entlassen.“
Ione errötete. „Offenbar haben sie meinen Befehl missachtet.“
„Zum Glück.“ Alexio strich ihr das blonde Haar aus der Stirn. „Ich habe nämlich in Paris gesehen, was der kleine Handkoffer enthält, den du überallhin mitnimmst.“
Ione erstarrte. Er hatte das Geld gesehen, das sie dafür hatte verwenden wollen, ihn gleich nach der Hochzeit zu verlassen. Sosehr sie auch gegrübelt hatte, ihr war kein anderes Versteck eingefallen, das ihr sicher genug erschienen war.
„Das Bargeld gehört auf ein Bankkonto und der Schmuck in einen Safe“, hielt Alexio ihr sanft vor.
Ione nickte und wartete ängstlich darauf, dass Alexio fragen würde, warum sie so viel Bargeld und den Schmuck ihrer Mutter mit sich herumtrug. Doch er lächelte – so charmant, wie nur er es konnte –, und sie bekam aufs neue Gewissensbisse. Nie würde sie ihm ihre wahre Absicht gestehen können. Eine solche Dummheit, einen so bösen Vorsatz würde auch er ihr nicht verzeihen.
„Du hast eine Adresse aufgesucht, bevor du diese Suite gemietet hast“, sagte Alexio wie von ungefähr. „Was
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