Julia Festival 94
verbringen würde.
Aber was ging das sie, Misty, an? Was hatte sie mit Leones Sexleben zu tun? Nicht das Geringste, und doch konnte sie sich den restlichen Abend auf nichts konzentrieren. Immer wieder kehrten ihre Gedanken zu Leone zurück. Seine wahre Geliebte musste entweder sehr verständnisvoll sein, oder sie kannte das Geheimnis, das Leone seiner falschen Geliebten nicht anvertrauen wollte.
Du hast nur einen Job, erinnerte sie sich, aber irgendwann schien sie das vergessen zu haben. Bei dem Ringkampf auf dem Rücksitz der Limousine? Oder vielleicht schon vorher?
Wütend über sich selbst, ging Misty ins Bett und schwor sich, nie wieder zu vergessen, dass sie nur Leones Angestellte war.
Am nächsten Tag wurde sie zum Flughafen gebracht, wo sie Leone treffen sollte. Er begrüßte sie mit einer Umarmung, und ein Fotograf stand bereit, um die Szene festzuhalten. Misty vermutete, dass er bestellt war, und wandte das Gesicht rechtzeitig ab, sodass der Kuss nur ihre Wange und nicht ihren Mund traf.
„Warum hast du das getan?“, fragte Leone.
„Küsse sind etwas sehr Persönliches“, antwortete sie kühl. „Eine Umarmung genügt als Täuschungsmanöver.“
„Meinst du? Ich habe eben ein Stück Holz umarmt.“
Unglücklicherweise mussten sie vier Stunden auf die Starterlaubnis warten, weil die Fluglotsen gerade wieder streikten. Während Leone in der VIP-Lounge auf seinem Laptop arbeitete, blätterte Misty gelangweilt einige Zeitschriften durch. Jedes Mal, wenn sie zu Leone hinsah, ärgerte sie sich über ihn. Der teure Sportanzug stand ihm ausgezeichnet, und er erntete von überall her Blicke, besonders von einer schlanken Blondine, die Misty offensichtlich für einen unwichtigen Anhang hielt und es sich in den Kopf gesetzt hatte, mit Leone zu flirten.
Und warum auch nicht? Sie, Misty, war ja nur ein unwichtiger Anhang. Sie war ein Niemand, der in Leones Leben keine Rolle spielte. Gestern Abend hatte er sich mit einer Frau getroffen, die ihm etwas bedeutete …
Endlich kam die Starterlaubnis. „Hast du noch vor aufzutauen, bevor wir bei unseren Gastgebern eintreffen?“, fragte Leone auf dem Weg zu seinem Privatjet.
„Ich weiß nicht, was du meinst“, antwortete Misty. „Ich begleite dich, ich bin gut angezogen, und ich lächle. Was verlangst du mehr?“
„Du hast in der Lounge meinen Kaffee nicht gesüßt“, beschwerte sich Leone. „Das geschah mit Absicht und war kindisch.“
„Von jetzt an kannst du dir deinen Kaffee selbst süßen“, fuhr Misty ihn an. „Ich bin nicht deine Sklavin.“
Während des Fluges wechselten sie kein Wort, nicht mal, als sie endlos über dem Flugplatz von Aberdeen kreisen mussten, ehe sie die Landeerlaubnis erhielten. Als sie endlich in das bereitstehende Auto stiegen, war es schon sieben Uhr. Leone hatte vergeblich versucht, ihre Gastgeber telefonisch zu erreichen und die Verspätung zu erklären. Das vor ihnen liegende Wochenende verwandelte sich immer mehr in einen Albtraum, in dem alles schiefging, was nur schiefgehen konnte.
„Dio mio!“, rief Leone, als er zum wiederholten Mal vergeblich angerufen hatte. „Warum geht niemand ans Telefon? Es ist ein Schloss … die Garrisons müssen viel Personal haben.“
„Willst du damit sagen, dass du diese Leute noch nie besucht hast?“, fragte Misty, die gern mehr über ihre Gastgeber erfahren wollte, ohne neugierig zu erscheinen. Ein Schloss? Das klang immerhin interessant.
„Nein, noch nie. Ich kenne die Garrisons kaum, aber sie scheinen schon älter zu sein.“
Leone behauptete, den Weg zu kennen, und lehnte die Benutzung der kleinen Straßenkarte ab, die Misty zusammen mit einer Touristenbroschüre im Flughafen mitgenommen hatte. Das Fahren machte sie müde, und da Leone ohnehin keine Unterhaltung wünschte, schlief sie bald ein.
Irgendwann wurde sie ziemlich unsanft wachgerüttelt. „Wir sind da“, erklärte Leone schlecht gelaunt.
„Wo?“
„Am Ende der Welt, wenn du mich fragst.“
Misty kletterte aus dem Auto. Es war überraschend kühl, und sie rieb sich die nackten Arme, ehe sie nach ihrer Jacke griff. Alles, was sie außer dem Auto erkennen konnte, war ein turmhoch aufragendes Gebäude ohne eine Spur von Licht.
„Wie spät ist es?“
„Zehn Uhr.“
Beinahe hätte Misty gefragt, ob Leone die in der Broschüre empfohlene längere Aussichtsstrecke gefahren sei, aber dann verzichtete sie darauf, ihn noch mehr zu reizen. Er war inzwischen einige Stufen hinaufgegangen und bearbeitete die
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