Julia Festival 94
Eroberung jedes Interesse verloren. Leider hatte sie ihm die Eroberung allzu leicht gemacht. Er hatte sie weder überreden noch ihr besonders schmeicheln müssen. Sie war ihm bereitwillig entgegengekommen, und er hatte das Angebot nicht zurückgewiesen.
Es schmerzte Misty, ihre erste Liebesnacht in diesem veränderten Licht zu sehen, aber so war es schon immer gewesen. Sie glaubte, ihr eigenes Leben führen zu können, und sobald etwas schiefging, wurde sie wieder das kleine, verlassene Mädchen, dem das Leben zu frühe Wunden geschlagen hatte.
„Wann gibt es Frühstück?“, fragte sie betont locker, als Leone sein Gespräch beendet hatte.
Er wandte sich zu ihr, und für den Bruchteil einer Sekunde erkannte Misty, dass ihn eine starke innere Anspannung quälte. Dann lächelte er, so warm und verführerisch, wie nur er es konnte.
„Ich fürchte, du hast das Frühstück verpasst. Es ist bereits ein Uhr.“
Misty setzte sich mit einem Ruck auf. Dabei entglitt ihr das Betttuch, und sie griff schnell danach, um ihre Brüste zu bedecken. Plötzlich machte es sie verlegen, in Leones Gegenwart nackt zu sein.
„Du hättest mich wecken sollen“, beschwerte sie sich.
„Wozu? Um bei Regen zu angeln?“
„Wie bitte?“
„Die anderen Gäste sind inzwischen vom Hotel herübergekommen und zum See weitergezogen, um zu angeln. Das scheint hier Tradition zu sein.“
Misty hörte erst jetzt das leise Rauschen des Regens und unterdrückte ein Frösteln.
„Ich habe gesagt, du wärst von der anstrengenden, langen Reise ermüdet …“
„Du hast … was?“
„Ich angle nicht gern.“ Leone sah Misty nicht an, als scheute er den Blickkontakt genauso wie sie.
„Hättest du dich nicht für ein oder zwei Stunden überwinden können? Immerhin bist du hergekommen, um mit diesen Leuten zusammen zu sein. Angeln die Frauen auch?“
„Einige von ihnen.“
„Bestimmt lassen sich irgendwo Gummistiefel finden, die ich ausleihen kann. Schade, dass du mir nichts vom Angeln erzählt hast, ich hätte sonst passende Garderobe mitgenommen.“ Es fiel Misty schwer, ruhig und unbeteiligt zu sprechen. „Wir sind wirklich die idealen Gäste. Wir kommen zu spät an, stehlen den Cognac, und am nächsten Tag liege ich noch nachmittags im Bett.“
„Ted Garrison hat großen Einfluss an der Börse. Es interessiert ihn nur, wie viel Geld ich in sein nächstes Unternehmen investiere. Wir könnten das ganze Wochenende im Bett verbringen, und er würde nichts dazu sagen.“
„Ich wollte dich nicht kränken, Leone.“ Mit einem unnatürlichen Lächeln griff Misty nach ihrem Nachthemd und zog es an. „Sex mag für einen langweiligen Abend genügen, aber ob wir uns das ganze Wochenende so unterhalten könnten, möchte ich bezweifeln.“
Leone sagte kein Wort. Bevor Misty im Badezimmer verschwand, warf sie ihm noch einen verstohlenen Blick zu. Sein Gesicht war plötzlich maskenhaft starr. Sie hatte ihn überrascht … natürlich, das war es. Er hatte nicht erwartet, dass sie den ersten Schlag führen würde, aber er sollte sich auf keinen Fall einbilden, dass ihr die letzte Nacht etwas bedeutet hatte und sie sich vielleicht nach einer Wiederholung sehnte!
Nachdem sie ihr Gesicht mit frischem Wasser gekühlt hatte, sah sie Tränen in ihren Augen glänzen. Zum Teufel damit! Und wenn es sie innerlich umbrachte, sie würde sich zusammennehmen und so tun, als wäre nichts geschehen.
Als Misty ins Schlafzimmer zurückkam, war Leone fort. Sie wählte für ihren ersten Auftritt bei den Garrisons ein fliederfarbenes Ensemble, das aus einem wadenlangen Rock, einer hauchdünnen, kunstvoll mit Perlen besetzten Bluse und einer leichten Strickjacke bestand, bürstete ihr Haar, bis es ihr schimmernd auf die Schultern fiel, und legte sorgfältig Makeup auf. Höchste Zeit, wieder in ihre alte Rolle zu schlüpfen. Sie war Leones falsche Geliebte, mehr an Mode und an ihrem Aussehen als an Angeln interessiert und auf keinen Fall geneigt, sich praktisch anzuziehen – auch nicht an einem Wochenende auf einem schottischen Schloss.
Während sie auf hohen Absätzen vorsichtig die steinerne Wendeltreppe hinunterging, drangen Stimmen zu ihr herauf, die sich langsam aus der Halle entfernten. Unten war niemand mehr zu sehen, und so betrat sie das angrenzende Wohnzimmer, das von einem Kaminfeuer erwärmt wurde. Auch hier war niemand zu entdecken. Sie wollte schon umkehren, als ein leises Geräusch anzeigte, dass sie nicht allein war.
Ein vornehm aussehender Mann
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