Julia Festival 94
mit dunklem Haar, das an den Schläfen grau zu werden begann, hatte die Halle betreten und zog mit bekümmerter Miene sein Jackett aus, um die Regentropfen davon abzuschütteln. Er blickte in Mistys Richtung und schien zu erstarren – ob aus Überraschung oder Schreck ließ sich schwer entscheiden.
„Hallo“, sagte Misty. Der eindringliche Blick des Mannes ließ sie erröten, und sie fragte sich, ob ihre Aufmachung in dieser Einsamkeit vielleicht zu mondän wirkte. „Wissen Sie, wo die ganze Gesellschaft geblieben ist?“
„Beim Lunch, soviel ich weiß. Hoffentlich komme ich nicht zu spät. Bei diesem Wetter am See zu picknicken erschien mir wenig verlockend.“ Der Mann kam mit einem gewinnenden Lächeln auf Misty zu und reichte ihr die Hand. „Ich bin Oliver Sargent.“
„Misty Carlton.“
Der Name genügte, um Misty über die Identität des Mannes aufzuklären. Oliver Sargent war Birdies Lieblingspolitiker.
Oliver Sargent hielt Mistys Hand einen Augenblick fest, ehe er sie beinahe abrupt losließ. Misty wunderte sich noch darüber, als eine ältere Frau im typischen ländlichen Tweedkostüm auf sie zukam.
„Du liebe Güte, Oliver, wie sehen Sie denn aus?“, rief sie besorgt. „Ist Ihnen nicht gut? Sie sollten unbedingt die nassen Sachen ausziehen.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, wandte sie sich an Misty. „Ich bin Margaret Garrison, und Sie müssen Misty sein. Es ist nett, auch mal jüngere Leute um sich zu haben. Sie scheinen ohne Begleitung zu sein …“
Misty erschrak. „Wie bitte?“
„Leone und Ted sind mit einem Boot auf den See gefahren. Wahrscheinlich werden wir sie vor dem Abend nicht wiedersehen. Ted trifft selten jemanden, der ein so leidenschaftlicher Angler ist wie er, und wird die Gelegenheit weidlich ausnutzen.“
Leone ein leidenschaftlicher Angler? Er selbst hatte das Gegenteil behauptet, aber Misty konnte nicht länger darüber nachdenken, denn ihre Gastgeberin führte sie in ein ungeheiztes Speisezimmer, in dem etwa zwölf ältere Personen um den Tisch versammelt waren. Sie setzte sich dazu und betrachtete die winzige Portion Salat, die vor ihr stand.
„Wir essen immer vorher, wenn wir hier eingeladen sind“, raunte ihre rechte Nachbarin ihr zu. „Sie wohnen wohl im Schloss?“
„Ja.“ Misty lächelte der verblühten Blondine zu. „Sie nicht?“
„Jeder macht diesen Fehler einmal und dann nie wieder. Das nahe gelegene Hotel ist bedeutend gemütlicher. Übrigens … ich bin Jenny Sargent.“
„Dann habe ich eben Ihren Mann in der Halle getroffen.“
„Oh, ist Oliver schon zurück? Er angelt nicht besonders gern, aber Ted erwartet von seinen Gästen, dass sie seine Neigungen teilen.“
„Ich bin Misty Carlton.“
„Ist Misty eine Kurzform?“, fragte Mrs. Sargent.
Misty nickte. „Eigentlich heiße ich Melissa, aber niemand hat mich je so genannt.“ Sie kostete von dem Salat und fragte sich, ob die nächsten Gänge vielleicht üppiger ausfallen würden. Gleichzeitig dachte sie an Leone und wünschte ihm nicht nur Wind und Regen, sondern auch hohe Wellen, Seekrankheit und überhaupt einen scheußlichen Nachmittag.
Oliver Sargent erschien nach dem ersten Gang und setzte sich neben Margaret, die sich darüber verbreitete, wie unnötig eine Zentralheizung sei, während ihren Gästen insgeheim die Zähne aufeinanderschlugen und sie vergeblich auf größere Portionen hofften, um sich wenigstens von innen zu wärmen.
Was mochte Leone bewogen haben, ein ganzes Wochenenden mit diesen Leuten zu verbringen? Misty grübelte vergeblich darüber nach. Alle anderen Gäste waren älter und schienen sich nur für Politik und kaum für Wirtschaft zu interessieren. Hatte Leone etwa vor, in die Politik zu gehen? Versprach er sich davon irgendwelche Vorteile für „Andracchi Industries“?
Während des Essens bemerkte Misty immer wieder, dass Oliver Sargent zu seiner Frau hinübersah. Sie vermutete jedenfalls, dass seine Frau gemeint war, denn welches Interesse hätte er an ihr, Misty, haben sollen? Wie auch immer … ihr fiel auf, dass er die kältesten grauen Augen hatte, die man sich vorstellen konnte. Sie würde Birdie ein anderes Bild von ihrem Lieblingspolitiker geben müssen, und das nicht nur wegen der kalten Augen. Auch die Art, wie er mit seinen Nachbarinnen flirtete, seine ganze ölige Liebenswürdigkeit wirkte abstoßend und hatte nichts von dem Charme, den seine Verehrerinnen ihm nachsagten.
Nach dem Lunch begann eine Führung durch „Eyrie Castle“, bei
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