Julia Festival 94
Birdie hatte verboten, dir etwas zu sagen. Du solltest dir keine Sorgen machen und nicht extra von London herkommen.“
Nancy schien noch immer ein schlechtes Gewissen zu haben. „Ich wollte sie umstimmen, aber dann ließ ich ihr ihren Willen, um sie nicht aufzuregen.“
Misty atmete tief ein. „Und es geht ihr wirklich gut?“
„Die Ärzte sind sehr zufrieden.“
„Danke, Nancy. Du hörst von mir.“
Misty legte das Handy auf den Tisch. Nichts hätte günstiger kommen können, um sie vorübergehend von ihren eigenen Problemen abzulenken. Mehr noch, sie sah plötzlich wieder einen Weg vor sich, der aus diesem Albtraum herausführte. Sie würde nach Hause fahren und Birdie im Krankenhaus besuchen.
„Worum geht es?“, fragte Leone.
„Birdie ist endlich operiert worden. Sie hat lange darauf gewartet.“
Eine Weile herrschte Schweigen, dann sagte Leone: „Ich würde deine Pflegemutter sehr gern kennenlernen.“
„Nenn mir nur einen Grund, der sie veranlassen könnte, dich zu empfangen.“
Darauf wusste Leone keine Antwort. „Man wird dich in der Limousine hinbringen“, sagte er nur.
Misty widersprach nicht, denn die Fahrt mit dem Zug hätte sehr viel länger gedauert. Sie ging in den Flur, als wäre Leone gar nicht da. Tatsächlich existierte er nicht mehr für sie. Der Mann, den sie geliebt hatte, war vor ihren Augen zu einem Ungeheuer geworden, von dem sie Furcht und Entsetzen forttrieben.
„Gib mir wenigstens eine Chance, alles wieder gutzumachen“, bat Leone, bevor sie das Haus verließ.
Misty sah ihn verständnislos an. Sie spürte, in welchem inneren Aufruhr er sich befand, aber der Rückweg zu ihm war für immer versperrt.
„Wie könnte ich das?“, fragte sie leise. „Ich ängstige mich zu Tode vor dir.“
Während der ganzen Fahrt nach „Fossetts“ gelang es Misty nicht, Leones Bild aus ihrer Erinnerung zu verdrängen. Wie vernichtet hatte er dagestanden, aber was hatte er erwartet?
Erst während einer langen, schlaflosen Nacht wurde ihr klar, welche Fehler sie selbst gemacht hatte. Sie war ausschließlich ihrem Herzen und ihrem sinnlichen Verlangen gefolgt und hatte ihren gesunden Menschenverstand in den Wind geschlagen. Sich mit einem sizilianischen Tycoon einzulassen! Das Eingeständnis fiel ihr schwer, aber in gewissem Sinn war sie sehenden Auges in ihr Unglück gerannt.
Hatte sie etwa nicht gewusst, in welchem Ruf Leone Andracchi stand, und sich trotzdem mit ihm verbunden? Wann hatte sie vergessen, dass er nicht nur ein überaus anziehender Mann, sondern auch ein überaus gefährlicher Gegner war? Und wann hatte sie sich in ihn verliebt?
Misty seufzte und barg das Gesicht in den Kissen. Ja, Liebe machte wirklich blind, und eine liebende Frau war bereit, alles zu glauben, was sie glauben wollte.
10. KAPITEL
Drei Wochen später saß Misty in Dr. Flemings Wartezimmer, um sich die Ergebnisse der Tests abzuholen, auf denen er bestanden hatte. Unnötigerweise, wie sie immer noch glaubte.
Alles war Leones Schuld: ihre häufige Niedergeschlagenheit, ihr nervöser Magen, ihre Neigung, bei jeder Kleinigkeit in Tränen auszubrechen, und das Ausbleiben ihrer Regel. Dr. Fleming hatte gefragt, ob sie schwanger sei, aber das hatte sie mit Hinweis auf die Unfallfolgen ausgeschlossen und stattdessen die Aufregungen der letzten Zeit für ihren Zustand verantwortlich gemacht.
Leone hatte einmal angerufen, und sie hatte schweigend den Hörer aufgelegt. Als er nicht zurückrief, hatte sie angenommen, er habe den Wink verstanden, aber eine Woche später war er überraschend an Birdies Krankenbett aufgetaucht. Natürlich hatte Birdie sich von ihm einwickeln lassen. Sie hatte ihn nach dem Besuch als einen „äußerst charmanten jungen Mann“ bezeichnet, aber sie ahnte ja nichts von dem, was zwischen ihm und Misty vorgefallen war.
Inzwischen war Birdie aus dem Krankenhaus entlassen worden. Zu Mistys Enttäuschung war sie nicht gleich nach „Fossetts“ zurückgekehrt, sondern zu ihrer kürzlich verwitweten Schwester nach Oxford gefahren, um sich dort einige Wochen von der Operation zu erholen.
Birdie fehlte Misty sehr, und so ungern sie es sich auch eingestand – Leone fehlte ihr noch mehr. Es kam ihr vor, als lebte sie in einer Welt ohne Sonne. Mochte sie sich noch sooft daran erinnern, dass er sie rücksichtslos für seine Zwecke ausgenutzt hatte, ihre innere Einsamkeit und Verlorenheit wurden mit jedem Tag unerträglicher.
„Miss Carlton? Dr. Fleming lässt bitten.“
Klopfenden
Weitere Kostenlose Bücher