JULIA FESTIVAL Band 76
hasste sie und alles, wofür sie stand.
Nein. Das stimmte nicht. Er hasste sie nicht mehr. Sie war ihm gleichgültig. Wie alle anderen in Harrisville.
Er fühlte sich in die Vergangenheit zurückversetzt. Es war wie ein Albtraum. Er unterdrückte den Wunsch, einfach umzukehren und wieder zum Flughafen zu fahren. Je früher er die Stadt erreichte, desto früher konnte er sie verlassen.
Er gab Gas und lenkte den Wagen auf die leere Straße. An diesem Ende der Stadt herrschte nicht viel Verkehr. Der Schichtwechsel im Stahlwerk hatte bereits stattgefunden, und außer den Arbeitern fuhr niemand diesen Weg.
Wenig später erreichte er den Firmenparkplatz. Nichts hatte sich geändert. Der Lärm war so laut wie früher, die Luft stickig und heiß. Vor ihm ragte das Werk wie ein glühender Vulkan in die Nacht. Gott, wie er diesen Ort hasste.
Links davon stand das zweistöckige Verwaltungsgebäude wie ein verlorenes Kind. Die Büros waren dunkel, nur eins im ersten Stockwerk war erleuchtet. Die Nachricht, dass sein Vater im Krankenhaus lag, war aus dem Werk gekommen. Vermutlich von seiner Sekretärin. Sie hatte ihn gebeten, auf dem Weg in die Klinik bei ihr vorbeizuschauen. Vor elf Jahren war Miss Barnes eine mürrische Person gewesen. Bestimmt hatte sich daran nichts geändert. Es war besser, sie nicht warten zu lassen.
Chase stieg aus und war mit vier langen Schritten an der Tür. Sie öffnete sich geräuschlos. An der Treppe brannte Licht.
Der Weg nach oben fiel ihm mit jeder Stufe schwerer. Die Reife, die er in den letzten Jahren erworben hatte, fiel von ihm ab wie eine Schneedecke an einem sonnigen Tag. Er fühlte sich wieder wie ein Teenager und rechnete halb damit, das zornige Gesicht seines Vaters vor sich auftauchen zu sehen und Jennys Lachen zu hören.
Ihr Lachen. Ja, sie lachte ihn aus.
Lange unterdrückte Erinnerungen kehrten zurück. Am Ende der Treppe blieb er stehen, obwohl er wusste, in welches Büro er musste. Es war nur eins erleuchtet. Er machte sich bewusst, dass er sich verändert hatte. Er brauchte nichts und niemanden in dieser Stadt. Er war hier, weil sein Vater im Sterben lag.
Als er weiterging, hallten die Schritte über den langen Korridor. Wie oft hatte er diesen Weg zurückgelegt? Hundertmal? Tausendmal? In all den Schulferien, in denen er im Werk gearbeitet hatte, und davor, als sein Vater ihn in die Firma mitgenommen hatte. Es kam ihm vor wie gestern.
Vor ihm ging eine Tür auf.
„Dad? Hast du etwas vergessen? Soll ich Mom anrufen und ihr sagen, dass …“ Eine Frau trat auf den Flur und erstarrte. „Chase?“
Das konnte nicht sein!
Er war auf alles vorbereitet, aber nicht auf sie. Jenny. Die Verbitterung, die er nach langen Kämpfen überwunden hatte, stieg wieder in ihm auf. Er wollte ihr so wehtun, wie sie ihm wehgetan hatte. Er wollte, dass sie dieselbe Leere spürte, die ihn all die Jahre hindurch gequält hatte.
Stumm stand sie vor ihm. Oder bildete er sich alles nur ein? Spielte seine Fantasie ihm einen Streich? Er streckte die Hand aus. Wenn er sie berührte, würde sie vielleicht verschwinden. Doch die Finger griffen nicht in die Luft, sondern ertasteten eine warme, weiche Wange. Jenny sah ihn aus großen, grünen Augen an.
Sie war älter geworden. Ihr Gesicht war nicht mehr unbeschwert. Sie waren beide erwachsen geworden. Und einander fremd. Es hatte eine Zeit gegeben, in der sie auf eine solche Berührung mit einem Lächeln und einer Umarmung reagiert hätte. Er ließ die Hand sinken.
„Du hast es also geschafft“, sagte sie.
„Ja.“ Sie hatte nichts von ihrer Schönheit verloren. „Ich habe nicht erwartet, dich hier zu treffen. Miss Barnes …“
„Miss Barnes ist vor vier Jahren in den Ruhestand gegangen. Selbst in Harrisville ändern sich die Zeiten. Möchtest du nicht hereinkommen und dich einen Moment setzen?“
Sein Zorn begann sich zu legen. Er versuchte, ihn festzuhalten und sich mit seiner Hilfe gegen das zu wehren, was Jenny in ihm auslöste.
Er hatte ganz vergessen, wie ruhig und sanft ihre Stimme klang. Als er ihr durch die Tür folgte, hatte er das Gefühl, eine andere Welt zu betreten. Auf ihrem Schreibtisch standen die vertrauten blauen Auftragsbücher zwischen unzähligen Steuerformularen. Der alte Holzstuhl war gegen die Wand geschoben, als wäre sie hastig aufgestanden. Selbst die Kaffeemaschine stand noch dort, wo sie früher gestanden hatte. Das einzig Neue im Raum war der moderne Computer.
„Ist das dein Büro?“, fragte er.
„Ja.
Weitere Kostenlose Bücher