JULIA FESTIVAL Band 95
doch glatt die Unverschämtheit, den Kindern zu erklären, dass sie nur vorübergehend hier sei – damit ihnen gar nicht erst in den Sinn kam, ein Vertrauensverhältnis zu ihr aufzubauen. Mit wenigen Worten hatte er sie sozusagen von vornherein zur bösen Stiefmutter aus dem Märchen abgestempelt.
Als Cole zu Ende geredet hatte, klatschten die Kinder höflich in die Hände. Er führte Elissa zu den Plätzen, die Tiffany frei gehalten hatte, und drehte sich auf dem Absatz um, nachdem er sie aufgefordert hatte, sich am Buffet zu bedienen.
„Isst du denn nicht mit uns?“, fragte Tiffany enttäuscht. „Ich habe dir doch extra einen Platz frei gehalten.“
„Heute nicht.“
„Aber du isst doch sonst immer mit uns.“
„Nächstes Mal wieder. Das verspreche ich dir“, erwiderte er, zerzauste ihr Haar und ging.
Während Elissa mit Tiffany am Buffet entlangging und abwesend dem Geplauder des Mädchens lauschte, das ausführlich auf die Vor- und Nachteile der einzelnen Speisen hinwies, dachte sie über Cole nach. Er war immer schon schwierig und verschlossen gewesen, und daran hatte sich nichts geändert. Im Gegenteil, es war eher noch schlimmer geworden. Und auch in anderer Hinsicht war er der Alte geblieben. Er war ein Mann, der zu seinem Wort stand. Und wenn er meinte, dass sie niemals Freunde sein könnten, dann sollte sie nicht daran zweifeln.
Drei Stunden später schloss Elissa die Tür ihrer Privaträume hinter sich. Erleichtert atmete sie auf. Der Abend war zwar schön gewesen, und sie hatte gern die neugierigen Fragen der Kinder beantwortet, während sie sich gleichzeitig auf die verschiedenartigsten Brettspiele konzentrierte, aber es war ein langer Tag gewesen, und sie war an solche Unruhe nicht gewöhnt. Normalerweise setzte sie sich nach dem Abendessen mit einem guten Buch in eine Ecke, las noch einige Zeit und ging dann ins Bett.
Elissa holte einen leeren Notizblock von ihrem Nachttisch und machte es sich auf dem Sofa in ihrem kleinen Wohnzimmer bequem. Sie schaltete die Leselampe an und kaute nachdenklich auf ihrem Füller herum. – Die Kleidung der Kinder war in Ordnung gewesen, teilweise geflickt, aber das kam schließlich in den besten Familien vor. Ein paar von den Gebäuden hatten einen Anstrich nötig, aber das erschien ihr nicht allzu wichtig. Trotzdem, irgendetwas war ihr aufgefallen. Sie ließ den Weg zum Speisesaal vor ihrem geistigen Auge noch einmal Revue passieren. Richtig, die Spiel- und Sportgeräte waren ziemlich schäbig und abgenutzt gewesen. Und einen Spielplatz für die Kleinen gab es überhaupt nicht. Genau – da würde sie ansetzen.
Elissa begann zu schreiben. Cole würde sie vielleicht hinauswerfen, wenn er wüsste, was sie machte. Aber damit hatte er schließlich überhaupt nichts zu tun. Was sie da tat, tat sie ausschließlich für die Kinder. Ein paar Telefonate, und die Sache wäre erledigt. Sie konnte es kaum erwarten, die Gesichter der Kinder zu sehen. Oder Coles Gesicht.
Als Cole das Verwaltungsgebäude betrat, hörte er Frauen miteinander reden. Da er Elissas Stimme erkannte, überlegte er, ob er das Gebäude nicht lieber wieder verlassen sollte. In der Woche, die sie nun schon im Waisenhaus arbeitete, hatte er alles darangesetzt, ihr aus dem Weg zu gehen. Er versuchte sich einzureden, dass es keine Feigheit seinerseits war, sondern lediglich eine Möglichkeit, unnützen Schwierigkeiten aus dem Weg zu gehen.
Eine schwache Entschuldigung. Das wusste er selbst. Also entschloss er sich, dieses eine Mal nicht den Weg des geringsten Widerstandes einzuschlagen, sondern ging zielstrebig in Richtung Empfang, wo sich Elissas Arbeitsplatz befand.
Wie oft hatte er sich schon gesagt, dass ihm ein Zusammentreffen mit ihr völlig gleichgültig sein müsste? Wie oft hatte er geglaubt, innerlich gewappnet zu sein? Es gelang ihm einfach nicht, dieser Frau mit der Gelassenheit gegenüberzutreten, die er sich wünschte. Ein kurzer Blick in ihre Augen, und er kam jedes Mal wieder zu der Erkenntnis, dass diese unerträgliche Kombination aus Hass und Verlangen ihn beinahe um den Verstand brachte.
„Wo hast du das eigentlich gelernt?“, fragte die zehnjährige Gina Elissa gerade, als Cole die Tür öffnete und auf der Bildfläche erschien. Gina beobachtete fasziniert, wie Elissa Tiffanys Haar flocht.
Shanna, ein zierliche Rothaarige, die wie gewöhnlich pausenlos redete, griff nach ihrem eigenen Haar, das ihr bereits in einem schweren Zopf auf den Rücken fiel. „Bringst du uns
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