JULIA FESTIVAL Band 95
einerseits natürlich wissen, was mit Tiffany los war, gleichzeitig aber würde sie jede sich bietende Gelegenheit nutzen, eine Beziehung zu dem Mann herzustellen, mit dem sie zwar verheiratet war, von dem sie aber rein gar nichts wusste. Sie war jetzt seit drei Wochen hier, und er war ihr genauso fremd wie am Tag ihrer Ankunft.
Im Flur hörte sie Schritte. Die Tür wurde von außen aufgestoßen, und Cole kam herein. Er sah erschöpft aus. Als sich ihre Blicke trafen, waren der Ärger und das Misstrauen, mit denen er sie gewöhnlich betrachtete, aus seinen Augen verschwunden.
„Darf ich dir einen Kaffee einschenken?“
„Danke.“ Cole setzte sich an den Tisch. Elissa stellte die Tasse mit dem dampfenden Kaffee vor ihn hin und nahm rechts neben ihm Platz.
Die große Küche war tadellos aufgeräumt. Die riesigen Töpfe standen in Reih und Glied auf der Anrichte, und der alte Ofen blitzte vor Sauberkeit. Alles hier zeugte davon, dass die Leute, die hier arbeiteten, ihre Pflichten mit Liebe und Sorgfalt erfüllten. Und dafür war Cole das beste Vorbild.
„Wie geht’s Tiffany?“
Cole starrte in seine Tasse. „Sie schläft. Sie hat beinahe eine Stunde gebraucht, um sich zu beruhigen. Ich werde wohl einen Kinderpsychologen zurate ziehen müssen.“
„Kann ich irgendwie helfen?“
„Du willst wissen, was geschehen ist?“, fragte Cole abweisend.
„Es wäre schön, wenn du es mir erzählen könntest, aber es muss nicht unbedingt sein. Ich will nur helfen.“
„Aha, die große Wohltäterin“, sagte er zynisch.
So viel also zu der Beziehung zu ihrem Ehemann Cole. Elissa ärgerte sich, dass sie überhaupt versucht hatte, an ihn heranzukommen. „Mit wem hast du eigentlich Krieg geführt, bevor ich hierherkam?“ Sie stand abrupt auf und ging zur Tür. „Du hast gewonnen, Cole. Ich lass dich allein. Gute Nacht.“
Sie war schon bei der Tür angelangt, als er sie zurückrief. „Elissa, warte.“
Elissas Magen zog sich krampfhaft zusammen. Sie blieb stehen, drehte sich aber nicht zu Cole um. Er sollte die Tränen in ihren Augen nicht sehen. Warum hatte er immer noch solche Macht über sie? Warum war das Feuer zwischen ihnen immer noch nicht erloschen?
„Tiffanys Mutter ist drogenabhängig.“
„Das weiß ich.“
„Sie ist schon seit Jahren im Entzug, wird aber immer wieder rückfällig. Und jetzt ist sie ganz verschwunden. Sie ist aus der Klinik fortgelaufen und hat somit Tiffanys Hoffnung auf ein gemeinsames Leben völlig zunichtegemacht.“
„Das ist ja entsetzlich.“ Elissa suchte nun doch seinen Blick. „Kein Wunder, dass sie außer sich war. Sie weiß ja nicht einmal, ob ihre Mutter noch lebt.“
„Das ist nicht das Schlimmste.“ Cole konzentrierte sich auf die Tasse Kaffee, die vor ihm auf dem Tisch stand. „Sie hat nicht nur ihre Mutter verloren, sondern einen Lebenstraum. Das kann nur jemand verstehen, der selbst ohne Familie aufgewachsen ist. Die Existenz der Mutter bedeutete für sie Hoffnung. Sie konnte zumindest noch von einem späteren Leben in der Geborgenheit einer Familie träumen.“
Elissa nickte. „Ich verstehe. Alle Kinder hier sehnen sich nach einem Leben in der Familie, zum Beispiel durch eine Adoption. Und die Kinder, die noch ein Elternteil haben, glauben, diesen Wunschtraum ständig in greifbarer Nähe vor sich zu haben.“ Obwohl Elissa mit einem erneuten Angriff rechnete, hatte sie sich wieder hingesetzt. Diesmal hatte sie sich allerdings für den Platz ihm gegenüber entschieden. Die größere Entfernung zwischen ihnen gab ihr ein Gefühl der Sicherheit.
„So ist es.“
Elissa betrachtete den Mann, der ihr gegenübersaß. Trotz des Lampenlichts in der Küche spürte sie deutlich die Stille der Nacht, die sie umgab. Eine Stille, die sogar Cole zum Schweigen gebracht hatte, denn zum ersten Mal seit ihrer Ankunft im Waisenhaus dachte er nicht daran, sie zurechtzuweisen.
Wenn sie diesen Abschnitt ihres Lebens doch endlich hinter sich bringen könnte. Wenn sein Anblick ihr Herz doch nicht länger schneller schlagen ließ! Wenn sie ihn doch nicht immer noch für den anziehendsten, bestaussehenden und fürsorglichsten Mann halten würde, der ihr je begegnet war! Zumindest hatte er letztere Eigenschaft gegenüber anderen. Dunkles Haar fiel Cole in die Stirn. Bartstoppeln bedeckten sein Kinn. Er erinnerte Elissa an einen Piraten der Neuzeit. Der Zug um seinen entschlossenen Mund war undefinierbar. Sie hätte gern gewusst, woran er in diesem Augenblick dachte: an
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