JULIA FESTIVAL Band 95
Sieh dir nur Millie an. Sie hat nie im Waisenhaus gelebt.“
„Aber sie hat vier Kinder aufgezogen. Trotzdem hast du recht. Millie ist etwas ganz Besonderes. Sie kann mit Menschen umgehen, und ich wüsste nicht, was ich ohne sie anfangen sollte. Wusstest du übrigens, dass Jeff und sie vor Kurzem ihren dreißigsten Hochzeitstag gefeiert haben?“
Coles Zustand hatte sich inzwischen wieder normalisiert. Er verlangsamte sein Tempo und ließ Elissa aufholen, als der Pfad ein wenig breiter wurde. Sie hatten inzwischen den Fluss erreicht und beobachteten das strömende Wasser, das sich seinen Weg durch das felsige Flussbett bahnte.
„Ja, ich habe das Foto auf ihrem Schreibtisch gesehen. Auf mich wirken sie immer noch wie ein Liebespaar. Ich wünschte, meinen Eltern wäre es ähnlich ergangen“, seufzte Elissa und schaute in den reißenden Fluss. „Ihre Ehe war eine Art Ringkampf. Ihre Scheidung war eine Erleichterung für alle.“
„Ich habe mir immer vorgestellt, dass meine Eltern so glücklich wären wie Millie und Jeff. Es war nur eine kindliche Fantasie. Aber mir hat sie über vieles hinweggeholfen.“
„Das klingt logisch. Sie haben sich bestimmt auch sehr geliebt.“ Elissa sah ihn an.
„Ich werde es nie erfahren. Aber immerhin hat mein Vater auf ein Vermögen verzichtet, um meine Mutter zu heiraten.“
„Manchmal glaube ich, dass Menschen nur Dinge zu schätzen wissen, für die sie sich abmühen mussten. Wenn man etwas zu leicht bekommt, macht es einem auch nicht viel aus, es wieder zu verlieren.“
Spielte Elissa auf ihre Situation an? Und hatte sie nicht recht? Hatte er eigentlich ein Opfer in die Beziehung mit eingebracht? Elissa hatte ihre Ausbildung abgebrochen, hatte ihre vertraute Umgebung hinter sich gelassen, ihre Freunde und die Familie, um ihm zu folgen. Und er? Worauf hatte er verzichtet?
„Du hast recht“, stimmte er zu.
„Meinst du das im Ernst?“ Überrascht drehte sie sich in seine Richtung. Dabei verfing sich eine Haarsträhne im Strauch am Wegesrand. Sie zog daran, um sich zu befreien.
„Lass mich dir helfen“, meinte Cole und löste die Locke aus dem Geäst.
Elissa lächelte ihn dankbar an.
Anstatt ihre Haarsträhne loszulassen, drehte er sie lose um einen Finger. Es fühlte sich seidig und kühl an, genauso, wie er es in Erinnerung gehabt hatte. Reglos sahen sie sich in die Augen. Das Rauschen des Stromes und das unentwegte Vogelgezwitscher, der Wind, der über die Blätter der Bäume strich, das alles erschien ihnen wie eine stimmungsvolle Symphonie. Die wirkliche Welt wurde für einige Minuten ausgeblendet, das Vergangene geriet in Vergessenheit – auch für Cole.
Elissas Augen waren dunkler als sonst. Ihr Mund zitterte. Sie sah Cole erwartungsvoll an. Was jetzt geschehen sollte, lag in seiner Hand.
Wie immer erfüllte ihn unerträgliches Verlangen. Aber diesmal war es anders als sonst. Er witterte Gefahr, weil er nicht mehr imstande war, Elissa zu hassen. Sein Ärger verblasste von einer Sekunde auf die andere.
Ohne es zu wollen, fing er an, sie zu mögen. War das der Anfang einer Freundschaft? Er war nie ihr Freund gewesen, wusste nicht, ob er dazu überhaupt in der Lage war. Außerdem erforderte eine Freundschaft Beständigkeit. Freunde gewährten Verzeihung, wozu Liebende meist nicht bereit waren.
„Und wenn du mich wieder verlässt?“, fragte er.
„Und was ist, wenn ich es nicht tue?“
Cole lächelte. Aber das Lächeln erreichte seine Augen nicht. Er ließ ihre Locke los und wandte sich ab. Freundschaft war vielleicht möglich. Vertrauen jedoch nicht.
Elissa näherte sich der kleinen Bibliothek, die sich gleich neben dem Haupteingang zum Camp befand. Die Kinder und die meisten Erwachsenen hatten sich bereits zurückgezogen, und sie brauchte dringend ein wenig Ruhe, um nachzudenken. Sie trat an ein Fenster und sah in die Nacht hinaus. Es hatte zu regnen angefangen. Doch das nahm Elissa kaum wahr. Sie hing ihren Erinnerungen nach, dachte an die Zeit, als sie noch mit Cole verlobt gewesen war. Sie erinnerte sich an die langen Stunden, die sie in seinem Apartment verbracht hatten. Er hatte sie in den Armen gehalten und sie geküsst, und sie hatte es in vollen Zügen genossen, obwohl sie ständig das Gefühl hatte, dass es ihn unglaublich Kraft kostete, sich zu kontrollieren.
Sie presste die Stirn gegen die kühle Fensterscheibe. Er hatte ihren Wunsch, als Jungfrau in die Ehe zu gehen, schweren Herzens akzeptiert. Wahrscheinlich war deshalb ihre
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