JULIA FESTIVAL Band 97
ich weiß nicht, was ich empfinde.“ Als sie sah, wie Melissa sie beobachtete, fuhr sie vorsichtig fort: „Vielleicht sollten wir es langsam angehen lassen.“
„Wärst du gekommen, wenn ich nicht so getan hätte, als wäre ich krank?“, erkundigte er sich heftig, und sie musste sich eingestehen, dass sie es wahrscheinlich nicht getan hätte. „Also kennst du meine Gründe“, fügte er dann hinzu, als hätte er ihre Gedanken gelesen.
„Ich glaube schon.“
Sam atmete tief durch und blickte in den Flur. „Bestimmt seid ihr müde. Ihr solltet euch ausruhen. Habt ihr schon etwas gegessen?“
„Man hat uns Kaffee und Limonade gebracht.“
„Und nichts zu essen?“ Er sah auf seine Armbanduhr. „Okay. Es ist fast halb zehn. Ich werde Sofia bitten, euch Brötchen und frischen Kaffee und Limonade zu bringen. Dann könnt ihr euch bis zum Mittagessen ausruhen.“
„Das klingt nicht schlecht.“ Helen wandte sich an Melissa. „Was meinst du?“
„Ich will mich nicht ausruhen“, verkündete diese und blickte ihren Großvater an. „Kann ich mitkommen?“
„Melissa!“, rief Helen, doch ihr Vater lächelte, was ihn sofort weniger streng erscheinen ließ.
„Warum nicht? Wenn es deiner Mutter nichts ausmacht.“
„Hm … nein“, antwortete Helen leise. Dann kam ihr ein Gedanke. „Ist Milos noch hier?“
Erneut verdrehte Melissa die Augen, aber zum Glück bemerkte ihr Großvater es nicht. „Nein, er ist weg.“ Plötzlich klang er viel fröhlicher. „Okay, Melissa, ich zeige dir das Haus. Und stelle dich Alex vor.“
„Alex?“, wiederholten sie und Helen gleichzeitig.
„Alex Campbell“, sagte er ein wenig widerstrebend. „Mayas Sohn.“
Melissa kehrte vor dem Mittagessen zurück und war kaum zu bremsen.
„Das ist vielleicht ein Haus, Mum!“, rief sie und warf sich auf Helens Bett, ohne darauf zu achten, dass sie dabei die seidene Tagesdecke zerknitterte. „Wusstest du, dass sie hier nicht nur Wein anbauen, sondern auch keltern?“
Helen hatte es nicht gewusst und ließ sich deshalb alles von ihr erzählen. Nachdem sie den Vormittag damit verbracht hatte, sowohl ihre als auch Melissas Sachen auszupacken und anschließend zu duschen, fühlte sie sich schon viel zuversichtlicher. Sie wäre überglücklich, wenn ihre Tochter auf dieser Reise die Erfahrung machte, dass das Leben mehr bot als die Schule zu schwänzen und mit anderen Teenagern, die sich die Zeit mit Haschen und Ladendiebstählen vertrieben, auf der Straße herumzulungern.
Vielleicht erhoffte sie sich zu viel, doch es war wenigstens ein Anfang, und Melissa schien es genossen zu haben.
„Er hat mich mit zur Mühle genommen“, berichtete sie und zog dabei an ihren Ohrpiercings. „Es war gut. Ich habe den Wein probiert, den sie letztes Jahr hergestellt haben.“
„Wirklich?“ Helen verzichtete auf die Bemerkung, dass es nicht vernünftig war, in ihrem Alter und zu dieser Tageszeit Wein zu trinken. „Und, wie war er?“
„Der Wein? Ganz gut, glaube ich.“ Melissa wirkte nicht besonders beeindruckt. „Ich werde wohl keine Alkoholikerin werden.“
„Das freut mich.“
„Warum?“ Unter gesenkten Lidern blickte ihre Tochter sie an. „Hast du Angst davor, dass ich nach Richard schlagen könnte?“
„Nein.“
„Gut.“ Es sah so aus, als wollte Melissa noch etwas sagen, doch dann überlegte sie es sich offenbar anders. „Jedenfalls behandelt Sam mich so, als würde er Wert auf meine Meinung legen. Das gefällt mir.“
Darauf wette ich, dachte Helen, sagte jedoch nur: „Hat er dich gebeten, ihn Sam zu nennen?“ „Nein.“
Nun schmollte Melissa ein bisschen. „Aber ich kann schlecht Grandpa zu ihm sagen, oder?“
„Nein, wohl kaum. Und, hast du Alex kennengelernt?“
„Oh ja“, antwortete Melissa betont lässig. „Allerdings habe ich zuerst gefrühstückt. Sam wollte mir das Haus zeigen, aber Maya hat sich ständig beschwert, dass wir ihr im Weg sind. Deshalb sind wir in den Jeep gestiegen und zur Mühle gefahren.“
„Ach so.“
„Und da habe ich Alex kennengelernt.“ Melissas Mundwinkel zuckten. „Er ist cool.“
Cool? Nun wurde Helen neugierig. „Magst du ihn?“
„Er war ganz nett.“
„Spricht er Englisch?“
„Ja.“
„Und, wie alt ist er?“
„Älter als ich“, erwiderte ihre Tochter ausweichend.
„Melissa!“
„Schon gut.“ Melissa fuhr sich durchs Haar. „Er ist nicht dein Bruder, falls du das denkst. Er ist sechsundzwanzig. Maya war wie du. Sie war erst siebzehn, als er
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