JULIA FESTIVAL Band 97
vorgekommen war: Sie hatte Ähnlichkeit mit Maria Sholti. Tess hob den Kopf und entgegnete steif: „Wir wissen noch gar nicht, ob Ashley es wirklich getan hat.“
„Oh, da bin ich anderer Meinung“, erklärte Lucia. „Ich kann mir keinen anderen Grund vorstellen, warum eine beinahe dreißigjährige Frau sich um die Zuneigung eines leicht zu beeindruckenden Kindes bemüht.“
„Marco ist kein Kind mehr“, protestierte Tess empört. „In England sind sechzehnjährige Jungen oft schon … ziemlich reif.“
„Ja, da haben wir es, Miss Daniels.“ Lucia verzog die Lippen. „Bei Ihnen in England ist alles anders. Für alleinstehende Frauen ist es ganz normal, Kinder mit verschiedenen Partnern zu haben. Die Ehe hält man für eine überholte Institution, und die Lehren der Kirche werden ignoriert. Doch so leben wir in Italien glücklicherweise nicht, Miss Daniels. Wir respektieren unsere Institutionen. Dasselbe erwarten wir von den Gästen in unserem Land.“
Tess befeuchtete sich die trockenen Lippen. „Sie malen ein düsteres Bild von meiner Heimat, Signora. Aber ich kann Ihnen versichern, dass wir keine völlig gottlose Gesellschaft sind.“
„Das müssen Sie natürlich jetzt behaupten.“
„Ja. Wir sind keine Heiden, Signora. Findet es die Kirche in Italien denn in Ordnung, wenn eine verheiratete Frau eine außereheliche Affäre hat?“
Lucia errötete. „Sie haben mit Raphael gesprochen, stimmt’s?“, fragte sie hart. „Natürlich haben Sie das. Deshalb hat er so viel Verständnis für Sie. Er benutzt Sie als Rechtfertigung für das, was er tut oder getan hat.“
„Nein!“, rief Tess entsetzt aus. Was für eine unsinnige Bemerkung. Wie konnte seine Mutter sie für Raphaels Scheidung verantwortlich machen? „Das heißt, ich habe mit ihm gesprochen. Er hat gedacht, ich wüsste, wo Ashley ist.“
„Und? Wissen Sie es?“
„Nein“, erwiderte Tess höflich, aber bestimmt.
„Hat mein Sohn Ihnen erzählt, dass er mit seiner Tochter geredet hat?“, fuhr Lucia fort. „Maria ist verheiratet und lebt nicht weit von hier in Viali.“
Tess war vorsichtig, obwohl die Frage harmlos klang. Was wusste Lucia di Castelli und was nicht? Tess atmete tief ein. „Ja, das ist mir bekannt“, sagte sie leise und war erleichtert, als in dem Moment ein junges Paar hereinkam. Es waren offensichtlich Touristen, die wahrscheinlich sowieso nichts kaufen würden. Doch das ahnte Raphaels Mutter nicht.
„Gibt es einen besonderen Grund für Ihren Besuch, Signora? Wenn nicht, möchte ich die Kunden bedienen. Falls Sie gehofft haben, ich könnte Ihnen etwas Neues mitteilen, muss ich Sie enttäuschen.“
Lucia presste die Lippen zusammen. „Ich bin überzeugt, Sie wissen mehr, als Sie zugeben, Miss Daniels. Anders als mein Sohn lasse ich mich nicht von Ihrer verbindlichen Art und Ihrem hübschen Gesicht täuschen.“
Tess war bestürzt über so viel Feindseligkeit. „Sie sollten jetzt gehen, Signora“, forderte Tess die Frau auf. „Ich muss arbeiten. Sie haben wahrscheinlich etwas Besseres zu tun, als hier herumzustehen und Ihre Zeit zu verschwenden. Es tut mir wirklich leid, dass Ihr Enkel verschwunden ist. Aber ich kann Ihnen nicht helfen. Ashley hat mich nicht über ihre Pläne informiert.“
Lucia war empört, und sekundenlang befürchtete Tess, die ältere Frau würde sie zurechtweisen. Doch dann gab sie ihre arrogante Haltung auf und zog mit einer hilflosen Geste ein Taschentuch aus der Tasche. Tränen liefen ihr über die Wangen, und sie war offenbar ziemlich unglücklich. Resigniert packte Tess sie am Arm und führte sie in das kleine Büro. Nachdem sie sie in den Sessel am Schreibtisch gedrückt hatte, wies Tess auf die Tür zum Badezimmer. „Da können Sie sich zurechtmachen. Hier wird Sie niemand stören, dafür werde ich sorgen. Beruhigen Sie sich erst einmal.“
Wie sie schon vermutet hatte, kaufte das junge Paar nichts.
Tess gestand sich ein, dass Signor Scottolino in gewisser Weise recht hatte: Das Geschäft lohnte sich nicht. Es war sicher die richtige Entscheidung, es zu schließen. Seit sie in der Galerie arbeitete, hatte sie nur drei Bilder verkauft. Das reichte noch nicht einmal aus, um alle Rechnungen zu bezahlen.
Erst nach weiteren fünfzehn Minuten fiel ihr ein, dass sie ihr Sandwich noch nicht gegessen hatte. Am liebsten hätte sie sich im Büro Kaffee gemacht. Vielleicht würde Signora di Castelli auch gern einen trinken. Doch sie hatte der Frau versprochen, sie nicht zu stören.
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