JULIA FESTIVAL Band 97
Michele vor der Galerie hatte absetzen können. Sicher war er jetzt davon überzeugt, dass sie nicht viel anders war als Ashley.
Nachdem sie geduscht und sich das Haar gebürstet hatte, zog sie einen grünblauen Baumwollrock, ein gelbes Top und flache Sandaletten an. Ehe sie die Wohnung verließ, warf sie noch einen flüchtigen Blick in den Spiegel.
Glücklicherweise verstrich der Vormittag ohne besondere Vorkommnisse. Sie hatte einige Kunden zu bedienen, und auch Silvio schaute kurz herein. „Geht es Ihnen heute besser?“, fragte er.
Tess runzelte die Stirn. „Was meinen Sie damit?“
„Sie haben doch gestern früher geschlossen. Deshalb habe ich angenommen, Sie seien krank“, antwortete er.
„Ach so.“ Sie errötete. „Ja, ich habe früher zugemacht, war aber nicht krank.“
„Nein?“ Silvio sah sie aufmerksam an.
„Ich habe mir freigenommen. Es war so ein herrlicher Tag“, improvisierte Tess nach kurzem Zögern.
Silvio kniff die Augen zusammen. „Hatten Sie eine schöne Zeit?“
„O ja“, behauptete sie, obwohl es nicht stimmte. „Heute ist es sehr heiß. Der Ventilator läuft schon den ganzen Morgen, ohne dass es viel nützt“, versuchte sie ihn abzulenken.
„Er wirbelt ja auch nur die warme Luft herum“, erklärte Silvio leicht spöttisch. „Haben Sie schon Pläne für das Mittagessen?“
„Für das Mittagessen?“, wiederholte sie. „Nein.“ Plötzlich wurde ihr bewusst, worauf Silvio hinauswollte, und sie fügte rasch hinzu: „Ich habe keine Zeit, etwas zu essen. Die Arbeit von gestern ist liegen geblieben, ich muss sie heute erledigen.“
„Es sieht hier nicht nach viel Arbeit aus“, wandte er ein.
„Ich meine die Büroarbeit.“ Tess gefiel es nicht, immer wieder neue Ausreden erfinden zu müssen. „Sie können sich gar nicht vorstellen, wie viele Anfragen Ashley bekommt. Die Leute wollen alles Mögliche wissen. Außerdem muss ich mich um die Rechnungen kümmern.“
„Mit anderen Worten: Sie wollen nicht mit mir essen gehen“, stellte Silvio ruhig fest. „Offenbar hat ein anderer Mann das Rennen gemacht, Tess. Wer ist es? Kenne ich ihn?“
„Nein, es gibt keinen anderen Mann, Silvio“, entgegnete sie. „Jedenfalls nicht hier. Ich kann mir nicht schon wieder freinehmen, das ist alles. Es wäre Signor Scottolino gegenüber nicht fair.“
Er zuckte die Schultern. „Wie Sie meinen.“
„Es tut mir leid.“
„Mir auch.“ Er lächelte. „Arbeiten Sie nicht zu viel. Das ist nicht gut. Man braucht auch etwas Spaß. Bis später.“
Tess atmete erleichtert auf, als Silvio die Galerie verlassen hatte, und stellte die Kaffeemaschine an. Hatte er etwa gesehen, dass sie am Tag zuvor in Castellis Wagen gestiegen war? Wenn ja, war es auch nicht mehr zu ändern.
Um die Mittagszeit herum entspannte Tess sich langsam. Ihre Befürchtung, Raphael würde in die Galerie kommen, hatte sich als unbegründet erwiesen. Da sie seit dem Frühstück nichts mehr gegessen hatte, holte sie sich in der Bäckerei ein Sandwich. Es war nicht weit bis dahin, und Tess war nur wenige Minuten weg. Aber als sie zurückkam, stand eine Frau vor der Tür und versuchte ungeduldig, sie zu öffnen.
„Entschuldigen Sie“, rief Tess der Frau zu, die sich gerade umdrehte und gehen wollte. „Kann ich Ihnen helfen?“
Die ältere Frau zog leicht arrogant die Augenbrauchen hoch. Sie war groß und sehr elegant gekleidet. Sie musterte Tess herablassend. Tess war ihr noch nie begegnet, sie erinnerte sie jedoch an jemanden.
„Sie sind doch Miss Daniels, oder?“, fragte die Frau kühl, und Tess nickte. „Lassen Sie uns hineingehen. Ich muss mit Ihnen reden.“
„Okay.“ Tess war so bestürzt, dass sie keine Einwände erhob. Sie schloss die Tür auf und ließ der älteren Frau den Vortritt. „Kennen wir uns, Signora?“
Die Frau antwortete nicht sogleich, sondern blieb mitten im Ausstellungsraum stehen und ließ den Blick verächtlich über die Gemälde an den Wänden gleiten. Es waren keine besonders guten Bilder, das war Tess klar. Aber einige waren wirklich nicht schlecht.
Schließlich drehte die Frau sich zu ihr um. „Wir kennen uns noch nicht persönlich, aber ich weiß Bescheid über Sie, Miss Daniels“, sagte sie. „Mein Sohn hat mir von Ihnen erzählt. Ich bin Lucia di Castelli“, stellte sie sich arrogant vor. „Ihre Schwester hat meinen Enkel verführt.“
Ich hätte mir denken können, dass sie seine Mutter ist, dachte Tess. Jetzt wusste sie auch, weshalb sie ihr bekannt
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