JULIA FESTIVAL Band 97
sie ignoriert hatte. Was hatte sie eigentlich erwartet? Raphael di Castelli wollte von ihr nur wissen, wo sich ihre Schwester aufhielt. Das war alles. Für sie interessierte er sich nicht. Es ging ihm nur um seinen Sohn.
9. KAPITEL
Unterwegs kaufte Tess eine Flasche Weißwein. Sie ließ sie jedoch ungeöffnet auf der Küchentheke stehen und trank nach dem Essen auf dem Balkon eine Tasse Kaffee.
Es war beinah dunkel, und die Lichter am Wasser entlang brannten schon. Küchengerüche drangen aus den geöffneten Fenstern zu ihr herauf, und unten auf der Straße herrschte lebhaftes Treiben. Irgendwo wurde Saxofon gespielt. Die Melodie klang so wehmütig, dass ihr Tränen in die Augen traten. Es hätte so ein schöner Urlaub werden können, dachte sie. Warum war es schiefgegangen?
Tess wusste natürlich, warum. Ashley hatte sie belogen. Andrea war nicht krank, und Ashley hatte nie vorgehabt, nach England zu fliegen, um ihre Mutter zu pflegen. Stattdessen war sie mit Marco verschwunden, der viel zu jung für sie war.
Plötzlich fiel Tess etwas ein, und ihr stockte der Atem. Morgen war Freitag. Andrea hatte gedroht, am Wochenende nach Italien zu kommen. Tess hoffte, sie würde es nicht wahr machen. Das hätte ihr gerade noch gefehlt, dass ihre Stiefmutter unangekündigt auftauchte. Das Apartment war relativ klein, und Andrea würde vermutlich erwarten, dass sie sich eine andere Unterkunft suchte.
Das Gelächter der Leute, die offenbar im Hof eine Party feierten, klang beruhigend. Tess beneidete die Menschen etwas um ihre unbekümmerte Fröhlichkeit. Wenn ich wie Ashley hier ständig lebte, hätte ich mich längst mit den anderen Mietern angefreundet, überlegte sie. Das junge Paar, dem sie im Hausflur schon einige Male begegnet war, schien sehr nett zu sein. Es hätte ihr Spaß gemacht, ab und zu jemanden zum Essen einzuladen und bei einem Glas Wein zu plaudern.
Auf einmal klopfte es an die Wohnungstür. Am liebsten hätte Tess so getan, als wäre sie nicht da. Aber sie konnte Andrea sowieso nicht ausweichen. Dass es ihre Stiefmutter war, bezweifelte sie keine Sekunde. Sie stellte die leere Tasse in die Spüle und öffnete die Tür.
Den Mann, der vor ihr stand, hätte sie am allerwenigsten erwartet. Verblüfft blickte sie ihn an.
„Ehe Sie aufmachen, sollten Sie sich vergewissern, wer der Besucher ist“, erklärte Raphael di Castelli rau. „Wen haben Sie denn erwartet?“
„Niemanden.“ Tess war schockiert. „Ich habe niemanden erwartet“, bekräftigte sie und fügte trotzig hinzu: „Weshalb sind Sie hier? Möchten Sie sich einmal eine bescheidene Wohnung ansehen?“
Raphael presste die Lippen zusammen. „Das möchte ich überhört haben. Sind Sie allein?“
„Was geht Sie das an?“, fragte sie gereizt. Allzu deutlich erinnerte sie sich daran, wie er sie am Strand von sich geschoben hatte. Es schmerzte immer noch. Wie konnte er es wagen, unangemeldet aufzutauchen und so zu tun, als hätte er das Recht, sie nach ihrem Privatleben auszufragen? Oder erwartete er, dass sie sich für das, was sie zu seiner Mutter gesagt hatte, entschuldigte? Dann verschwendete er nur seine Zeit.
Er seufzte. „Darf ich hereinkommen?“
„Warum?“
„Weil ich mit Ihnen reden will“, antwortete er geduldig. „Das möchte ich nicht im Hausflur tun.“
„Heute Abend möchte ich nicht mit Ihnen reden, Signore“, erwiderte sie rebellisch. Sie wollte nicht mit ihm allein sein, denn sie traute sich selbst nicht, wenn sie mit zusammen war. „Ich wollte gerade ins Bett gehen“, behauptete sie deshalb.
„Um Viertel nach neun? Das glaube ich Ihnen nicht, meine Liebe.“
„Nennen Sie mich nicht ‚meine Liebe‘“, forderte sie ihn ärgerlich auf. „Es geht Sie überhaupt nichts an, wann ich ins Bett gehe, Signore. Sie können morgen in die Galerie kommen. Bis dahin hat es sicher Zeit.“
„Tess!“ Seine Stimme klang so sanft, tief und eindringlich, dass Tess erbebte.
Sie bemühte sich, die Gefühle, die er in ihr weckte, zu ignorieren. „Wenn Sie glauben, damit zu erreichen, dass ich mich für die Bemerkungen Ihrer Mutter gegenüber entschuldige, haben Sie sich getäuscht. Ich habe alles so gemeint, wie ich es gesagt habe. Richten Sie ihr bitte aus, einfach zu verschwinden, ohne sich zu verabschieden und die Tür hinter sich zuzumachen, sei nicht die feine Art.“
Castelli zog die Augenbrauen zusammen. Ehe Tess begriff, was er vorhatte, ging er an ihr vorbei in die Wohnung und schlug die Tür zu. „Wovon, zum
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