JULIA FESTIVAL Band 97
überhaupt in der Galerie war. Aber ich habe sie heute noch nicht gesehen. Wer weiß, was sie entdeckt hat.“
Tess verzog die Lippen. „Hoffentlich denken Sie nicht, ich hätte Ihnen etwas verheimlicht“, erklärte sie hitzig. „Deshalb sind Sie hier, stimmt’s? Ihre Mutter ist verschwunden, und Sie glauben, ich wüsste, wo sie ist.“
„Das ist doch lächerlich“, entgegnete er ungeduldig. „Wieso sollte meine Mutter verschwunden sein?“
„Dann verraten Sie mir doch endlich, warum Sie hier sind.“
Er lehnte sich an die Theke, stützte die Hände auf die Arbeitsplatte und stellte leicht ironisch fest: „Sie haben mich jedenfalls nicht eingeladen. Möchten Sie, dass ich gehe?“
Natürlich wollte sie das nicht, obwohl es sicher die beste Lösung gewesen wäre. „Ich bin mir ziemlich sicher, Sie wissen genau, was ich möchte.“ Sie drehte sich um und nahm zwei Gläser aus dem Schrank. „Trinken Sie ein Glas Wein, ehe Sie gehen?“
„Warum nicht?“
Tess fuhr zusammen und hätte beinah die Gläser fallen lassen, denn er stand plötzlich so dicht hinter ihr, dass sie seinen warmen Atem auf ihrer Haut spürte. Er hatte sich mit beiden Händen neben sie gestützt, sodass sie sich vorkam wie in einer Falle. Wenn sie sich wieder umdrehte, wäre ihr Gesicht nur wenige Zentimeter von seinem entfernt.
„Was soll denn das?“, fragte sie und war selbst überrascht, wie normal ihre Stimme klang. „Wollen Sie ein Glas Wein oder nicht?“
„Wenn er genauso seltsam schmeckt wie Ihr Kaffee, verzichte ich lieber“, antwortete er. „Du liebe Zeit, Tess, werden Sie mir jemals verzeihen, was gestern passiert ist?“, fügte er leidenschaftlich hinzu. „Mir ist klar, dass Sie verletzt sind. Sie brauchen es nicht abzustreiten. Glauben Sie mir bitte, es tut mir unendlich leid.“
10. KAPITEL
Tess konnte es nicht glauben. „Ich bin nicht verletzt. Das bilden Sie sich nur ein. Ich habe die ganze Sache längst vergessen.“
„Wenn das wahr wäre, meine Liebe, hätten Sie jetzt keine Angst, sich umzudrehen und mich anzusehen.“ Raphael zögerte kurz. „Keine Sorge, es geschieht nichts, was Sie nicht selbst auch wollen.“
Er hat gut reden, denn er glaubt zu wissen, was ich denke, empfinde und mir wünsche, überlegte sie. Sie würde nichts zugeben. Noch einmal würde sie sich nicht lächerlich machen.
Sie stellte die Gläser hin und drehte sich um. Dabei presste sie sich mit den Hüften an die Theke und wagte kaum zu atmen, damit sie seine Brust nicht mit ihren Brüsten berührte. Dann blickte sie auf einen Punkt neben seinem Gesicht und erwiderte steif: „Wenn ich nun möchte, dass Sie gehen?“
Er seufzte frustriert und zog die Hände zurück. „Dann gehe ich. Aber vorher muss ich Ihnen noch etwas gestehen.“
„Was?“ Tess fühlte sich unbehaglich, denn er war ihr viel zu nah.
„Sie haben gefragt, warum ich gekommen bin. Würden Sie mir glauben, dass ich Sie wiedersehen wollte?“
„Nein.“ Sie stieß ihn weg und eilte an ihm vorbei durch den Raum. Sie hätte es sich denken können. Er scheute vor nichts zurück, um sein Ziel zu erreichen. Und sie machte es ihm auch noch leicht. „Sie sollten jetzt wirklich gehen, Signore. Sonst müsste ich den Hausmeister rufen und ihn bitten, Sie hinauszuwerfen.“ Ihr war klar, wie lächerlich die Drohung war. Der Hausmeister war mindestens siebzig Jahre alt.
Raphael schüttelte den Kopf. „Das würden Sie nicht tun. Zu so einer Szene würden Sie es nicht kommen lassen.“
„Seien Sie sich nicht so sicher.“ Tess ärgerte sich darüber, dass er sie so leicht durchschaute. „Ich weiß, dass sie glauben, ich wäre genauso skrupellos, wie Ashley Ihrer Meinung nach ist. Das bin ich aber nicht. Was am Strand passiert ist, war falsch, und es war gut, dass Sie es rechtzeitig beendet haben.“
Wieder seufzte er. „Das mag sein.“ Resigniert fuhr er sich mit der Hand durchs Haar. „Es war wahrscheinlich auch ein Fehler, dass ich hergekommen bin. Doch ich wollte Sie sehen und habe nicht darüber nachgedacht, dass ein falscher Eindruck entstehen könnte.“
„O bitte.“ Tess hatte genug gehört. „Wir wissen doch beide, warum Sie hier sind. Sie wollten mich nicht um Verzeihung bitten oder dergleichen. Vielleicht haben Sie gerade keine feste Beziehung und sich daran erinnert, wie leicht ich zu verführen bin. Aber wir brauchen uns gegenseitig nichts zu beweisen.“
„Sie irren sich, was meine Gründe für den Besuch angeht. Und das, was am Strand
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