JULIA FESTIVAL Band 98
ihr nicht stimmen mochte, es war ernster, als sie angenommen hatte. Nach all dieser Zeit konnte sie doch unmöglich noch in Gage verliebt sein! Schließlich hatten sie sich beide in völlig unterschiedliche Richtungen entwickelt.
Er erhob sich unvermittelt. „Es wird spät“, erklärte er und ging die Treppen hinunter. „Ich sollte jetzt nach Hause gehen.“
Sie wartete – atemloser, als sie zuzugeben bereit war –, bis er ihr leicht zunickte und dann zu seinem Haus hinüberging.
„Gute Nacht, Gage“, rief sie ihm hinterher, als ob sie es völlig in Ordnung fand, dass er jetzt ging. Als ob sie insgeheim nicht gehofft hätte, dass er sie noch mal küsste. Aber der eine Kuss schien ihm gereicht zu haben, und wenn man es genau nahm, traf das Gleiche auch auf sie zu. Im Grunde genommen war sie richtig erleichtert, dass er keine Annäherungsversuche mehr unternahm. Sie hätte nämlich Nein sagen müssen, und das wäre für beide peinlich gewesen.
Ach, was wollte sie sich eigentlich vormachen. Es war schrecklich, dass er sie nicht geküsst hatte!
Noch am nächsten Nachmittag grübelte Kari darüber nach, warum er es nicht versucht hatte und warum diese Tatsache ihr so zusetzte. Fand Gage sie nicht mehr attraktiv? Wie konnte ein Kuss, der sie so berührte, dass sie die ganze Nacht wach gelegen hatte, ihn kaltgelassen haben? Und warum regte sie das so auf?
Das hat was mit der Vergangenheit zu tun, sagte sie sich, als sie im Schlafzimmer ihrer Großmutter stand und langsam eine Schublade der Kommode öffnete. Je länger sie ihn Possum Landing war, desto mehr fühlte sie sich in die Vergangenheit zurückversetzt.
Kari schüttelte den Kopf, um die Geister zu verscheuchen, und setzte sich dann auf den Boden, um den Inhalt der letzten Schubladen durchzugehen. Es befanden sich ordentlich gefaltete Pullover darin, die durch Zedernholzstücke gegen Motten geschützt waren. Sie holte einen hellblauen Pullover heraus und bewunderte das kunstvolle, altmodische Strickmuster. Dieser Pullover war einst ein Lieblingsstück ihrer Großmutter gewesen, und vor Karis geistigem Auge stieg das Bild ihrer Großmutter so klar auf, als ob sie in Fleisch und Blut vor ihr stehen würde.
„O Grammy, ich vermisse dich so“, flüsterte sie in die Morgenstille hinein. „Ich weiß, dass du bereits vor langer Zeit von uns gegangen bist, aber ich denke jeden Tag an dich. Ich hab dich so lieb.“
Kari lächelte verträumt, als sie sich vorstellte, wie ihre Großmutter ihr zuflüsterte, dass sie sie ebenfalls liebte. Mehr denn je. Ihre Großmutter war schon immer die einzige Konstante in ihrem Leben gewesen.
Kari legte den Pullover langsam zurück. Ihr war klar geworden, dass sie Kartons brauchte, um die Sachen einzupacken. Sie strich noch mal liebevoll über den Pullover, bevor sie die Schublade wieder schloss. Aber eines wusste sie jetzt schon: Diesen Pullover würde sie behalten. Er würde eine Art Talisman sein. Eine Erinnerung an die Frau, die sie so liebevoll aufgezogen hatte.
In der mittleren Schublade befanden sich Tücher und Handschuhe, während sich in der obersten Schublade der Modeschmuck ihrer Großmutter befand. Der echte Schmuck, eine Perlenkette mit passenden Ohrringen sowie einige Goldketten und Ringe, lag in einer Schatulle, die auf der Kommode stand. Vielleicht hatte ihre Großmutter ihn auch getragen, aber sie konnte sich vor allem an den Modeschmuck erinnern.
Da waren die bunten Ketten, die Kari sich umgelegt hatte, als sie noch ein Kind gewesen war. Das Glücksbringerarmband, die Schmetterlingsohrringe und die kleine emaillierte Rosenbrosche, die Kari tragen durfte, als sie zum ersten Mal mit Gage ausging.
Sie nahm sie in die Hand, rutschte zum Bett hinüber und lehnte sich dagegen. Dann rieb sie mit dem Daumen über die emaillierten Rosenblätter und erinnerte sich daran, wie ihre Großmutter ihr die Brosche angesteckt hatte, bevor Gage kam.
„Sie soll dir Glück bringen“, hatte ihre Großmutter gesagt. Kari musste bei dieser Erinnerung lächeln, während sie gleichzeitig gegen Tränen ankämpfte. Damals hatte sie dringend Glück gebraucht, denn sie hatte nicht glauben können, dass ein Mann, der so erwachsen und gut aussehend war wie Gage Reynolds, mit ihr ausgehen wollte. Als er sie einlud, hatte sie zuerst gedacht, dass er sich einen Scherz mit ihr machen wollte.
Als sie dann mit ihm ausging, hatte sie immer wieder die Rose berührt, um ihre Nervosität unter Kontrolle zu halten und sich Glück zu
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