JULIA FESTIVAL Band 98
hatte nur ein paar Schrammen abbekommen. Ich habe draus gelernt. Ich werde mich wahrscheinlich heute Abend betrinken, aber ich werde auf keinen Fall in meinen Wagen steigen.“
„Dann ist es in Ordnung.“
„Aber ich warne dich, falls du vorhast, mir Gesellschaft zu leisten. Es wird eine lange Nacht werden“, erklärte er. „Du solltest dir auch einen Drink nehmen. Du wirst ihn brauchen.“
Kari nahm seinen Ratschlag an. Sie holte sich ebenfalls ein Glas aus dem Schrank und goss beiden Whisky ein. Dann nahm sie Platz und sah ihn an. „Jetzt erzähl mir, was passiert ist?“
Gage starrte in seinen Drink. Was passiert war? Nichts. Nichts und alles. Wie sollte er erklären, dass seine ganze Welt von einer Sekunde auf die andere auf den Kopf gestellt worden war. Nichts, was er bisher für wahr gehalten hatte, stimmte noch. Nichts war mehr wie noch vor einer Stunde. Alles hatte sich geändert.
„Ich war zum Abendessen bei meiner Mutter“, begann er langsam und vermied es, sie anzusehen. Er wollte nicht, dass sie wusste, was in ihm vorging. Und er wollte schon gar nicht wissen, was sie dachte. „Als ich ging, nahm ich den Müll mit hinaus, so wie ich es immer tue. Dann entdeckte ich in der Mülltonne ein Kästchen, das meiner Mutter früher mal viel bedeutet hat. Sie bewahrte immer Fotos darin auf und Dinge, die ihr lieb waren. Ich nahm an, dass es irrtümlich im Müll gelandet war, und holte es heraus. Als ich es meiner Mutter bringen wollte, stolperte ich. Das Kästchen fiel auf die Treppe, und Fotos flogen heraus.“
Er schwieg. Er dachte daran, was geschehen war, und hatte das seltsame Gefühl, nur einen Film gesehen zu haben. Der Mann auf der Treppe war gar nicht er. Die Frau, die vor ihm auf der Veranda stand, war nicht seine Mutter. Die anschließende Unterhaltung hatte nie stattgefunden.
„Ein Mann war darauf zu sehen“, fuhr er fort. „Meine Mutter mit einem Mann.“
Kari lehnte sich vor und berührte seinen Arm. Ihre Hand war warm und beruhigend.
„Sie hatte eine Affäre?“
Er nickte.
Kari seufzte. „Ich weiß, dass das schwer für dich sein muss. Du hast immer geglaubt, die Ehe deiner Eltern sei vorbildlich gewesen. Du musst schockiert sein.“
Sie verstand es nicht. Wahrscheinlich, weil er ihr noch nicht alles gesagt hatte. Und zwar den wichtigsten Teil. Den Teil, der seine Vergangenheit torpedierte und Minen in seine Zukunft legte.
„John kannte die Wahrheit“, erzählte er leise. „Er kam auf die Veranda. Mom weinte und konnte nicht sprechen. Er hat es mir dann gesagt.“ Jetzt hob Gage seinen Blick. „Der Mann auf dem Foto war mein Vater.“
Sie wurde blass. „Gage“, stieß sie atemlos hervor. „Oh nein!“
Er nickte. „Ja. Ich kann es auch nicht fassen. Es kann einfach nicht wahr sein. Mein Dad, ich meine Ralph …“ Er erschauerte.
Nichts davon ergab einen Sinn. Erneut stieg Wut in ihm auf. Wut und Schmerz – eine tödliche Kombination. Nur, dass er dieses Mal nicht betrunken durch die Straßen fahren und sein Leben sowie das Leben anderer gefährden würde. Dieses Mal würde er einfach hier sitzen und sich betrinken, bis der Schlaf ihn übermannte.
„Was ist mit deinem Vater?“, fragte sie.
„Welcher?“
„Dein richtiger, Ralph. Ich verstehe das nicht. Deine Eltern schienen sich doch so geliebt zu haben. Jeder glaubte das. Sie waren immer zusammen. Sie redeten und lachten so viel. Ich kenne deine Mutter. Sie ist nicht der Typ Frau, der …“ Kari hielt inne.
Gage wusste, was sie meinte. Er wäre auch niemals auf die Idee gekommen, dass seine Mutter eine Affäre gehabt und dann die Kinder, die in dieser Beziehung entstanden waren, ihrem Ehemann untergeschoben haben könnte. Er konnte sich einfach nicht vorstellen, dass sein Vater das erlaubt hätte. Er musste doch etwas gemerkt haben.
„Wie ist das passiert?“, fragte sie.
„Ich weiß es nicht. Ich bin nicht lange genug geblieben, um Fragen stellen zu können.“ Er war einfach gegangen, und das Schluchzen seiner Mutter hatte ihn bis zum Wagen verfolgt.
„Ich will nicht, dass es wahr ist“, gab er ruhig zu. „Nichts von dem. Wenn ich nicht der Sohn meines Vaters bin, dann …“
Wer war er? Fünf Generationen der Reynolds hatten mittlerweile in Possum Landing gelebt. Er war immer stolz darauf gewesen. Es war ein wichtiger Pfeiler in seiner Lebensgeschichte gewesen. Und jetzt war dieser Pfeiler eingestürzt, und nichts als Lügen waren übrig geblieben.
Kari rückte näher, legte den Arm um ihn
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