JULIA FESTIVAL EXTRA Band 06
Gefühle?“
Am Abend hatte Seb sich dann genau diese Frage immer wieder gestellt.
Und die Antwort schockierte ihn.
Nein, es war ihm keineswegs egal. Erst recht nicht nach jenem ersten Wiedersehen mit Charlotte, als er sich selbst nicht nur in ihren Gesichtszügen, sondern auch in ihrer Persönlichkeit wiedererkannt hatte. Es war nicht einfach, die Distanz zu überbrücken, auf die sie zu ihm gegangen war. Er konnte ihr nicht verdenken, dass sie anfänglich sehr misstrauisch war. Sandra, seine Exfrau, hatte noch zwei Söhne von George bekommen, und Charlotte war Teil einer neuen, aber glücklichen Familie geworden. Dennoch war sie nun einmal seine leibliche Tochter und damit eine Cooke. Wie er.
„All diese Verwandten“, staunte sie lachend, als sie mit ihm in Haslewich war. „Ich kann es kaum glauben. Wir scheinen mit der halben Stadt verwandt zu sein.“
„Mindestens“, bestätigte er trocken.
„Die Dinge haben sich geändert“, erklärte Guy ihm später. „Es sind viele Leute von außerhalb zugezogen, und die Stadt ist offener und toleranter geworden. Die Cooke-Frauen haben ihre Chancen genutzt und sind aktiv geworden. Sie sitzen im Gemeinderat, haben eigene Geschäfte eröffnet und bringen ihren Kindern bei, stolz auf ihre Herkunft zu sein. Nun ja, viele der Babys in Ruth Crightons Heim für ledige Mütter sind zwar auch Cookes, aber nur väterlicherseits …“
Seb kannte die Crightons. Wer in Haslewich nicht? Wie die Cookes, so gehörten auch die Crightons zu den bekanntesten Familien der Stadt, auch wenn sie erst seit der Jahrhundertwende hier lebten. Chrissie, Guys Frau, war eine Crighton.
Schon deshalb hatte Guy seinem Cousin geraten, sich beim Kauf eines Hauses an Jon Crighton zu wenden und sich bei der Abwicklung der Kaufformalitäten von dessen Anwaltskanzlei helfen zu lassen.
„Die Immobilienpreise sind dank Aarlston-Becker enorm gestiegen“, hatte Guy erklärt. „Nicht, dass wir uns beklagen. Die Firma hat dieser Gegend einen beträchtlichen Wohlstand beschert, auch wenn viele Einheimische sich vom Fortschritt bedroht fühlen.“
Seb hatte kein Haus gefunden, das ihm gefiel, und stattdessen anderswo eine Wohnung gemietet.
Jetzt schaltete er herunter, denn er hatte die Stadt erreicht, und der Verkehr wurde immer dichter. Die Rückkehr weckte in ihm schmerzhafte Erinnerungen.
„Du musst dich wieder verlieben, Dad“, hatte seine Tochter ihn vor einigen Monaten beschworen.
„Das ist etwas für Leute in deinem Alter“, hatte er geantwortet.
„Warum hast du nicht wieder geheiratet?“, fragte sie ihn daraufhin leise.
„Darüber wunderst du dich? Du hast doch selbst erlebt, was aus meinem ersten Versuch geworden ist.“ Er schüttelte den Kopf. „Ich bin zu egoistisch, Charlotte, und kann mich einfach nicht anpassen. Mich verlieben? Nein, das ist nichts für mich.“
„Das glaubst du nur. Du bestrafst dich, Dad, weil du dich meinetwegen schuldig fühlst. Aber das musst du nicht. Ich war erst zwei, als du und Mom euch getrennt habt, und als ich drei war, war sie schon mit George zusammen. Jedenfalls musste ich nie erleben, dass meine Eltern sich um mich stritten. Sie hat mir gesagt, dass du damit einverstanden warst, dass ich bei ihr und George aufwachse.“
„Willst du damit etwa sagen, dass ich dir einen Gefallen getan habe, indem ich dir und meiner Verantwortung für dich den Rücken gekehrt habe?“, fragte er grimmig.
„Natürlich nicht. Aber inzwischen sind wir doch wieder Vater und Tochter, oder nicht? Jetzt weiß ich, dass du mich liebst“, flüsterte sie.
Sie lieben? Ja, das tat er. Jetzt. Aber es hatte Jahre in seinem Leben gegeben, in denen sie für ihn praktisch nicht existierte. Und diese Schuld würde er für immer mit sich herumtragen. Wieder heiraten? Sich verlieben? Er fluchte und bremste scharf, als direkt vor ihm eine junge Frau auf die Straße trat, ohne auf den Verkehr zu achten. Mit quietschenden Reifen kam er zum Stehen, und die Fußgängerin erstarrte vor Schreck.
Seb sah in ein zartes, äußerst weibliches Gesicht, dem selbst die entsetzt aufgerissenen Augen nichts von der Anmut nahmen. Die leichte Brise spielte in ihrem Haar. Sie trug einen braunen Leinenrock und dazu einen kurzärmeligen beigefarbenen Pullover. Doch noch während er all das registrierte, überlagerte der Zorn jedes andere Gefühl, das ihr reizvoller Anblick in ihm auslöste.
Was fiel dieser Frau ein, ihm vor die Kühlerhaube zu laufen? Hoffentlich begriff sie, wie leichtsinnig
Weitere Kostenlose Bücher