JULIA FESTIVAL EXTRA WEIHNACHTSBAND Band 03
wahrzunehmen und mit den Gedanken ganz woanders zu sein, an einem anderen Ort und in einer anderen Zeit.
„Steven?“, flüsterte sie heiser. „Haben Sie gehört?“
„Ja.“ Er seufzte. „Ja, Selina, ich habe gehört, was Sie gesagt haben. Unangenehme Dinge sollte man immer auf morgen verschieben. In Ordnung, wir reden nach Weihnachten weiter. Ein Tag mehr oder weniger, das ändert auch nichts.“
„Nein.“ Aber hatte sich nicht schon alles geändert? Wie gern würde sie die Zeit zurückdrehen. Selina wünschte von ganzem Herzen, Steven wäre nie aufgetaucht, hätte ihr friedliches Leben nicht so durcheinandergebracht. „Ich sollte besser nach Robbie sehen“, meinte sie unsicher lächelnd und ließ Steven stehen, um nach oben zu gehen.
Nachdem Selina Robbie gute Nacht gesagt und ihn zugedeckt hatte, ging sie in ihr Zimmer, trat ans Fenster und blickte hinaus, um Zeit zu gewinnen, bevor sie Steven wieder gegenübertreten musste. Sollte sie sich allen Ernstes in ihm getäuscht haben? Er war heute so ganz anders, viel netter, gefühlvoller, keine Spur mehr von dem beißenden Spott. War das der echte Steven Howe? Oder hatte er sein wahres Ich gestern gezeigt? Dann fiele es ihr bestimmt leichter, mit ihm auszukommen.
Als er sie eben getröstet hatte, war in ihr das überwältigende Verlangen wach geworden, sich an ihn zu schmiegen, die Arme um ihn zu legen, sich von ihm küssen zu lassen. Aber das war doch verrückt, denn sie liebte Paul. Trotzdem gelang es ihr nicht, sich deutlich an sein Gesicht zu erinnern. Sie sah immer nur Stevens vor sich und ertappte sich bei dem Gedanken, dass Paul nach Robbies nervenaufreibenden Fragen wohl kaum so liebevoll und mitfühlend gewesen wäre. Er hätte sie nur aufgefordert, sich doch zusammenzunehmen.
Vielleicht hatten sie und Paul sich zu sehr aneinander gewöhnt, und es fehlte der nötige Abstand, um zu erkennen, was der andere wirklich dachte und fühlte. Paul war zweifellos davon überzeugt gewesen, dass sie Robbie, ohne zu zögern, in ein Heim geben könnte. Und sie selbst hatte fest mit Pauls Verständnis für ihr Verhalten gerechnet.
Besorgt und verwirrt ging Selina zurück ins Wohnzimmer.
Sie verbrachte mit Steven einen ruhigen Abend. Beide hingen öfter ihren Gedanken nach. Trotzdem war sich Selina Stevens Gegenwart jeden Moment bewusst. Sie hob kaum merklich den Blick, um Steven unauffällig zu beobachten, betrachtete forschend das markante sonnengebräunte Gesicht, das zerzauste braune Haar mit den hellen Strähnen, die langen dichten Wimpern. Stevens Hände waren kräftig. Die Hände eines Mannes, der fähig ist zuzupacken, dachte sie. Wie musste es sein, von ihm berührt zu werden … Selina atmete tief ein. Der Gedanke, in Stevens Armen zu liegen, sich von ihm streicheln zu lassen, war zu gefährlich, um ihn zu Ende zu denken.
Selina lehnte sich zurück und sah zum Christbaum, bis die Lichter vor ihren Augen tanzten. Das überlaute Ticken der Uhr schien das Gefühl der Zweisamkeit noch zu verstärken. Selina hörte, wie Steven sich bewegte, und spürte, dass er sie beobachtete. Ihre innere Anspannung wuchs, wurde nahezu unerträglich.
„Lassen Sie das“, bat Selina heiser.
„Was, Selina?“, fragte er leise.
„Sehen Sie mich nicht so an“, flüsterte sie verlegen.
„Ich mache Sie nervös, nicht wahr?“
„Na ja“, antwortete Selina viel zu laut. Sie legte das Strickzeug beiseite und sprang auf. „Ich gehe ins Bett“, verkündete sie trotzig, obwohl sie genau wusste, dass sie kein Auge zutun würde. Aber hier unten fühlte sie sich gefangen – und schuldig, und das war kaum zum Aushalten.
„Sie werden nicht schlafen können“, meinte Steven ironisch.
„Ich weiß“, schrie Selina und drehte sich zu ihm um. Ihr plötzlicher Wutausbruch stand in keinem Verhältnis zu Stevens Bemerkung. „Ich kann nicht … Ich bin es nicht gewohnt …“
„Gesellschaft zu haben? Dass ein Mann in Ihrem Wohnzimmer sitzt? Entspannen Sie sich, Selina. Es geschieht nichts, wenn Sie es nicht wollen.“
„Wenn es nach mir geht, passiert überhaupt nichts“, versicherte sie nicht sehr überzeugend. Steven schien sich über ihr Unbehagen köstlich zu amüsieren. Innerlich hin und her gerissen, sah Selina ihn mit funkelnden Augen an. Einen Mann wie Steven hatte sie noch nie kennengelernt. Er war unberechenbar, seine unerklärlichen Stimmungswechsel verwirrten sie, machten sie unsicher.
Im Licht der Lampe hatte Stevens Haar einen goldenen Schimmer, sein
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