Julia Gold Band 47
nie gemangelt hatte.
Anthea hatte nie ganz verbergen können, dass die stille, nachdenkliche Polly für sie eine Enttäuschung war. Ihrer Mutter wäre eine Tochter, die überwiegend Jungen, Kleider und Partys im Kopf gehabt hätte, lieber gewesen. Es hatte Anthea befremdet, dass Polly schon früh den Wunsch geäußert hatte, auf die Universität zu gehen und Bibliothekarin zu werden. Der zwei Jahre ältere Chris, der damals schon Medizin studierte, war der Einzige gewesen, der Pollys Wunsch, eine akademische Laufbahn einzuschlagen, verstanden und unterstützt hatte.
Polly hatte Chris einfach lieben müssen. Wann immer sie ein Problem hatte, war er für sie da gewesen. Seit der Teenagerzeit hatte Polly es immer irgendwie als selbstverständlich vorausgesetzt, dass sie Chris eines Tages heiraten würde.
Nachdem ihr Babyspeck verschwunden war, war sie zu einer schlanken Schönheit mit seidigem hellblondem Haar und ebenmäßigen Zügen erblüht und hatte scheu darauf gewartet, dass Chris sich für sie als Frau interessierte. Aber das war nie der Fall gewesen, wie Polly schmerzlich erkannt hatte.
In den Semesterferien hatte sie sich an ihrem neunzehnten Geburtstag endgültig damit abfinden müssen, dass ihr Traum nicht in Erfüllung ging. Chris hatte sie seiner derzeitigen Freundin scherzend als „Polly, meine jüngere Ersatzschwester“ vorgestellt, und seine herzlich liebevolle Art hatte ihr bestätigt, dass seine Gefühle für sie rein brüderlicher Art waren. An jenem Tag hatte sie aufgehört, sich Träumen hinzugeben.
Wieder an der Universität hatte Polly sich Verabredungen nicht mehr entzogen, wie sie es während der ersten beiden Semester getan hatte. Doch die Rendezvous, auf die sie sich eingelassen hatte, hatten mit den verächtlichen Vorwürfen geendet, Polly sei frigide oder keine richtige Frau. Vergebens hatte sie versucht, sich Chris aus dem Kopf zu schlagen. Sie liebte ihn immer noch und war sicher, dass sich daran nie etwas ändern würde.
Und da sie nicht Chris’ Frau werden konnte, war es eigentlich gleichgültig, an wen sie sich band. Mit dieser nüchternen Überlegung hatte Polly sich schließlich einverstanden erklärt, Raschid zu heiraten und ihrer Familie aus der Klemme zu helfen. Und nachdem dies feststand, hatten alle „vergessen“, dass König Reija sie praktisch gekauft hatte, und taten so, als werde ihr eine große Ehre zuteil.
Doch nachdem Raschids Wagen jetzt vorgefahren war, fiel es Polly angesichts der brutalen Wirklichkeit schwer, zu diesem Entschluss zu stehen. Sie dachte daran, dass unten ein Fremder auf sie wartete, der ihr Ehemann werden sollte. Aber sie hatte ihr Wort gegeben und konnte nun keinen Rückzieher mehr machen. Polly erkannte, dass sie zum ersten Mal etwas tat, was ihre ehrgeizige Mutter stolz auf sie machte …
„Du hast dich ja noch gar nicht umgezogen!“, unterbrach Anthea entsetzt Pollys Grübeleien. „So kannst du dich Raschid doch unmöglich zeigen.“
Polly zuckte die Schultern. „So wie ich normalerweise ausschaue?“, entgegnete sie trocken. „Also ich finde, er soll ruhig sehen, was er bekommt. Ich bin nun mal kein Modepüppchen.“
„Mach jetzt bitte keine Schwierigkeiten, Liebling“, flehte Anthea, die in ihrem Seidenkostüm und dem Perlenschmuck zeitlos elegant wirkte. „Geh dich sofort umziehen!“
„Wo ist Raschid denn?“
„Im Arbeitszimmer bei deinem Vater. Wir haben die Einzelheiten der Hochzeit durchgesprochen. Natürlich findet die Trauung in der St.-Augustins-Kirche statt, aber hinterher soll in Dharein eine zweite Zeremonie folgen. Wir hatten eine sehr interessante Unterhaltung“, verriet Anthea. „Stell dir vor, Raschid hat das Gesicht seiner ersten Frau erst nach der Hochzeit zu sehen bekommen. Das ist in seiner Heimat so Sitte.“
Polly schauderte. Obwohl sie Raschid noch nicht einmal kennengelernt hatte, war der Trauungstermin offenbar schon beschlossene Sache! Und ihre Mutter tat so, als sei diese verrückte Situation etwas absolut Alltägliches. „Das ist ja barbarisch!“, rief Polly entsetzt.
„Ach was, Liebling!“, widersprach Anthea. „Immerhin hat Raschid mit der Tradition gebrochen und ist extra herübergeflogen, um dich vor der Hochzeit kennenzulernen. Was uns merkwürdig vorkommt, ist für ihn ganz normal.“
„Findest du es für einen zweiunddreißigjährigen Mann normal, dass sein Vater ihm im Ausland eine Braut sucht, die er noch nicht mal gesehen hat?“, hielt Polly hilflos dagegen. „Im Übrigen
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