Julia Gold Band 47
Aber statt die Kekse zu nehmen und zu gehen, blieb er vor dem gerahmten Foto stehen, das an der Wand hing, und schaute sie fragend an.
„Meine Familie“, sagte sie und ärgerte sich, das Bild nicht entfernt zu haben. Nun wusste er, dass sie eine Familie hatte, und würde sich wundern, wenn sie nicht zur Hochzeitsfeier erschien.
„Über Ihre Familie haben Sie nie gesprochen. Warum nicht?“
„Sie haben mich nie gefragt.“
Er nickte und wandte sich wieder dem Foto zu. „Wo finde ich Sie?“
„Hier. In der letzten Reihe.“
„Wirklich? Man sieht ja kaum etwas von Ihnen.“
„Glauben Sie mir, das bin ich.“
„Wer ist das hübsche Paar in der ersten Reihe?“
„Meine Eltern.“
Sie rechnete damit, dass er nun etwas über mangelnde Ähnlichkeit sagen würde. So war es nämlich. Ihre Mutter besaß herrliches dunkles Haar und eine wunderbare Figur, ihr stattlicher Vater hatte ein gewinnendes Lächeln, und ihre Brüder und Schwestern waren auffallend attraktiv. Aber Ben verlor kein Wort darüber. Dafür war er viel zu höflich. Er dachte sich bestimmt seinen Teil. Das taten alle.
„Wie heißen Ihre Geschwister?“, wollte er wissen.
„Das sind meine Schwestern Robin und Helen, hier meine Brüder Paul und Jared.“
„Alle groß und gut aussehend.“
„Alle außer mir. Ich bin die Älteste, die Kleinste und die Hässlichste.“ Sie lächelte, um zu beweisen, wie wenig ihr das ausmachte. Doch tief im Innersten kränkte es sie, dass er den auffallenden Unterschied zwischen ihr und dem Rest der Familie nun kannte. Ben legte den Kopf schief und betrachtete sie eingehend.
Auch er würde nicht leugnen können, dass sie das hässliche Entlein in einer Familie von lauter Schönheiten war. Schlimmer noch, sie war die Einzige ohne besondere Begabung. Inzwischen hatte sie sich damit abgefunden. Aber es hatte einmal Zeiten gegeben, da hatte sie sich nichts sehnlicher gewünscht, als schön zu sein und im Mittelpunkt zu stehen.
„Und was machen die anderen in Ihrer Familie?“, fragte er.
„Sie sind Schauspieler oder Sänger, Künstler aller Art. Sie kämpfen für ihren Durchbruch. Und zwischen den verschiedenen Engagements bedienen sie in Cafés oder ziehen von Tür zu Tür und verkaufen Enzyklopädien.“
„Wie Sie da hineinpassen, verstehe ich nicht.“
„Ich? Ich hab mich um das Unwichtige gekümmert. Essen eingekauft, Rechnungen bezahlt, aufgepasst, dass alle ihre Termine einhielten. Ich bin nämlich die Vernünftige in der Familie, die Ernste, die Talentlose.“
„Ohne Sie wären alle verloren gewesen!“
„Nein, keineswegs. Erst dachten sie auch, es ginge nicht ohne mich. Aber sie kommen allein ganz gut zurecht. Niemand ist unersetzbar.“
Er hob die Augenbrauen. „Da bin ich mir nicht so sicher.“
„Doch, das stimmt.“
„Wollten Sie denn nie selbst in der ersten Reihe oder im Mittelpunkt stehen?“
„Nein“, behauptete Emily. „Ich habe keinerlei Begabungen.“
„Keine Begabungen?“, brauste er auf. „Sie bringen alles in Ordnung, Ihnen entgeht kein Detail, Sie sind eine Meisterin im strategischen Denken.“
„Das ist etwas anderes. Weil mir Talente und Illusionen fehlen, habe ich Betriebswirtschaft studiert. Sie können sich vorstellen, wie sterbenslangweilig meine Geschwister das fanden.“ Sie lächelte, denn sie wusste, dass ihre Familie trotzdem stolz auf sie war. Und sie, sie bewunderte ihre Eltern und Geschwister. Natürlich war sie manchmal auch eifersüchtig gewesen, aber seit sie ihr eigenes Leben führte, belastete nichts mehr das Verhältnis.
Ihre Eltern und Geschwister respektierten sie, und niemals würden sie verstehen, weshalb sie ohne Liebe heiraten wollte.
Ben betrachtete wieder das Foto. „Ich freue mich darauf, alle bei der Hochzeit kennenzulernen.“
Sie fasste sich ein Herz. „Es wird keiner kommen. Sie haben zu tun. Jobs, Gesangsstunden und anderes.“
„Das gibt es doch nicht. Es ist schließlich Ihre Hochzeit.“
„Aber es ist doch gar keine richtige. Ich möchte nicht, dass sie denken … Ich möchte sie einfach nicht enttäuschen, wenn wir alles wieder rückgängig machen. Deshalb erzähle ich erst gar nichts davon.“ Sie konnte ihrer Familie einfach nichts vormachen. Sie musste ihr schon die Wahrheit erzählen. Und die würde niemand verstehen. Die Claybournes waren alle schrecklich romantisch. Romantisch und unpraktisch. „Bei Ihrer Familie ist das ein bisschen anders.“
„Nicht sehr viel. Meine Familie wird auch enttäuscht sein,
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