Julia Gold Band 51
man nicht beschreiben kann. Wer nie nachts in der Wüste beobachtet hat, wie die Sterne langsam am Himmel entlang wandern, der hat nie hautnah gespürt, wie die Erde sich langsam um ihre Achse dreht.“
„Ja“, flüsterte Alexis. „Genau so habe ich es mir vorgestellt.“
Ihr war nicht bewusst, dass ihre Augen einen träumerischen Ausdruck angenommen hatten, der Ali nicht entgangen war. „Sie haben es sich so vorgestellt?“, fragte er interessiert.
„Als Kind habe ich immer von fernen Ländern geträumt“, bekannte sie. „Es war damals für mich fast lebensnotwendig.“
„Wieso das? Erzählen Sie mir von Ihrer Kindheit“, bat er.
„Es klingt sonderbar, aber irgendwie verbinde ich diese Zeit vor allem mit Regen. Natürlich kann es nicht ständig gegossen haben, aber in meiner Erinnerung sehe ich immer nur einen grauen Himmel und Leute im Matsch.“
„Wurden Sie schlecht behandelt?“
„Nein, es wäre unfair, so etwas zu behaupten. Ich habe meine Eltern früh verloren und bin bei entfernten Verwandten aufgewachsen. Onkel Dan und seine Frau waren schon alt und hatten keine Erfahrung mit Kindern. Sie taten ihr Bestes und ermöglichten mir eine gute Schulbildung, aber das Leben mit ihnen war sehr eintönig.“ Alexis lächelte etwas verlegen. „Um den tristen Alltag zu vergessen, habe ich viel gelesen. Meine absolute Lieblingslektüre waren die Märchen aus Tausendundeiner Nacht, was Sie sicher amüsieren wird.“
„Keineswegs! Als Junge habe ich diese spannenden Geschichten von bösen Zauberern und guten Feen, Prinzen und Prinzessinnen ebenfalls verschlungen.“
„Schon der Anfang war aufregend“, erinnerte sich Alexis. „Ein Sultan, der von seiner Gemahlin betrogen worden war und nun aus Rache am weiblichen Geschlecht jede Nacht eine neue Frau nahm und sie am nächsten Morgen töten ließ.“
„Bis er schließlich an Scheherazade geriet, die ihn mit ihren Geschichten dazu brachte, die Hinrichtung immer wieder einen Tag aufzuschieben“, ergänzte Ali. „Im Gegensatz zu Ihnen habe ich das Buch in einem Zelt gelesen. Ich musste vor der sengenden Sonne Schutz suchen, während Sie Ärmste sich nach ihr gesehnt haben.“
Alexis nickte. „Ja, mir kam das Leben damals recht trostlos vor. Ständig regnete es, im Haus war es eiskalt, das Taschengeld war knapp bemessen, weil – ich zitiere – ‚Sparsamkeit noch keinem geschadet hat‘ …“ Es klang, als wollte sie sich beklagen, und jäh verstummte Alexis.
Onkel Dan und Tante Jean hatten es nur gut gemeint und sie gelehrt, den Wert des Geldes nicht zu überschätzen. Die beiden hatten aber auch ihre mathematische Begabung erkannt und sie zum Studium der Wirtschaftswissenschaften ermuntert. Sich nur mit Ökonomie zu beschäftigen war ihr zu trocken gewesen, deshalb hatte sie sich nach Abschluss des Studiums als Journalistin versucht. Sie genoss den Kitzel, den ihr Recherchen über die dunklen Geschäfte von Persönlichkeiten des internationalen Wirtschaftslebens verschafften. Ali Ben Saleem würde sie davon natürlich nichts erzählen.
Und ebenso wenig würde sie ihm eine Predigt über Geld und Moral halten, wie ihr Onkel es manchmal bei ihr getan hatte.
Ihr Onkel und ihre Tante waren nun schon einige Jahre tot, und obwohl Alexis früher gegen die strenge Erziehung rebelliert hatte, war sie doch davon geprägt. So schwärmte sie zwar für schöne Kleider, spendete aber jedes Mal Geld für einen guten Zweck, wenn sie sich etwas zum Anziehen kaufte. Deshalb war es nicht verwunderlich, dass ihr Scheich Alis verschwenderischer Lebensstil missfiel.
„Um noch einmal auf diese stereotypen Lokale zurückzukommen“, sagte Ali. „Ebenso verhasst wie kitschige arabische Restaurants sind mir diese auf alt getrimmten englischen Wirtshäuser, die ‚Zum alten Mühlenrad‘ oder ähnlich heißen und wo die Kellner mittelalterliche Tracht tragen und den Gast fragen: ‚Meister, was ist Euer Begehr?‘“ Er hatte den Akzent so treffend nachgeahmt, dass Alexis sich vor Lachen ausschüttete.
„Wir leiden also beide unter den Klischeevorstellungen, die man über Ihr Land und meines verbreitet“, meinte sie.
„Aber ich betrachte England ebenfalls als mein Land, da ich eine englische Mutter habe. Außerdem habe ich in Oxford studiert und war auf der Militärakademie in Sandhurst.“
Beinahe hätte Alexis sich verraten und geantwortet, dass ihr das bekannt sei. Damit hätte sie jedoch alles verdorben.
„Was darf ich Ihnen geben?“, fragte Ali,
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