Julia Gold Band 51
Mutter etwas freundlicher hinzu: „Hör zu, ruf mich an, wenn du zu Hause eintriffst. Ich möchte wissen, ob du heil angekommen bist.“
„Hast du ihr nicht gesagt, dass du mit mir gefahren bist?“, fragte Harry überrascht.
Evie ging langsam zur Küche. „Nein, ich habe ihr nur geschrieben, dass ich eine Mitfahrgelegenheit gefunden hätte.“
Sie hatte Harry nicht in die Geschichte mit hineinziehen wollen. Die Dinge waren auch so schon kompliziert genug. Ihre Mutter war nur zu bereit, Harry in der Rolle des Retters ihrer Tochter zu sehen. Wenn man Lucinda den kleinen Finger reichte …
„Willst du deine Mutter nicht anrufen?“
Ohne zu antworten, nahm Evie den Kessel und füllte ihn mit Wasser. Sie wollte mit niemandem reden – nicht einmal mit Harry, obwohl es unter den gegebenen Umständen unhöflich gewesen wäre, ihm das zu sagen.
Das Telefon läutete erneut. Evie lauschte mit angehaltenem Atem, wer es diesmal sein würde. Raschids Stimme ertönte, er klang gereizt und sehr müde. „Nimm den Hörer ab, Evie! Ich weiß, dass du da bist …“
Evie rührte sich nicht. Sekunden verstrichen. Das Schweigen zerrte an ihren Nerven.
„Evie!“, meldete sich Raschid wieder. „Das ist doch kindisch! Nimm den Hörer ab!“
„Woher weiß er, dass du hier bist?“, fragte Harry neugierig. „Hat deine Mutter es ihm vielleicht gesagt?“
Evie schüttelte stumm den Kopf. Ihre Mutter wäre lieber gestorben, als Raschid irgendetwas zu sagen. Nein, Raschid musste gesehen haben, wie sie davongefahren war. Wahrscheinlich hatte er genau wie sie die ganze Nacht nicht geschlafen, sondern darüber gegrübelt, was er tun sollte, und zufällig am Fenster gestanden, als sie mit Harry losgefahren war.
„Ich bin auf dem Weg zu dir“, hörte sie Raschid nun ärgerlich sagen. „Sieh zu, dass du den Burschen, der bei dir ist, loswirst, denn ich kann für nichts garantieren, wenn ich ihn bei dir antreffe!“
„Was, zum Teufel …?“ Harry sah sie ungläubig an.
Mit einem Knacken war die Leitung tot. Evie zuckte derart zusammen, dass sie fast den Kessel fallen gelassen hätte.
„Woher weiß er, dass ich hier bin?“, fragte Harry verblüfft. „Besitzt der Mann irgendwelche übersinnlichen Kräfte oder so?“
„Oder so“, erwiderte Evie bedrückt. Ihr Herz pochte. Sie ging aus der offenen Küche ins Wohnzimmer und spähte aus dem Fenster. Draußen in der Gasse parkten mehrere Wagen, aber nur in einem saß jemand.
„Er muss uns gesehen haben, wie wir von Beverley Castle losgefahren sind“, erklärte sie Harry, der an ihre Seite kam. Dann deutete sie zu dem Wagen. „Das ist das Werkzeug seiner übersinnlichen Kräfte.“
„Du meinst, er hat uns beobachten lassen?“, fragte Harry entsetzt. „Warum der Aufwand? Er heiratet doch sowieso eine andere!“
Aber ich bekomme ein Baby von ihm, dachte Evie unglücklich. „Hör zu …“ Sie drehte sich zu Harry um. „Ich bin dir sehr dankbar, dass du mich nach Hause gebracht hast, aber ich glaube, du solltest wirklich gehen, bevor er kommt.“
„Ich lasse dich nicht mit ihm allein!“, widersprach Harry energisch. „Der Mann klang gefährlich am Telefon. Wer weiß, vielleicht hat er vor, dich in seinen Harem zu entführen!“
Evie lächelte wider Willen. Andererseits – wer konnte wissen, was Raschid im Sinn hatte? Sie verstand ihn nicht mehr. Zwei Jahre lang hatte sie geglaubt, ihn in- und auswendig zu kennen, und jetzt entdeckte sie Seiten an ihm, die sie nie erwartet hätte.
Dazu gehörte seine offensichtliche Entschlossenheit, an etwas festzuhalten, das er überhaupt nicht gewollt hatte. Das Baby. Nicht sie, Evie, oder ihre Gefühle füreinander, sondern ein Baby, das er als seinen Besitz betrachtete. Und Raschid gab nichts wieder her, von dem er glaubte, dass es ihm gehörte. Deshalb war die Harem-Theorie vielleicht gar nicht abwegig. Möglicherweise stellte Raschid sich vor, sie, Evie, irgendwo als seine versteckte Geliebte zu halten, ohne das Wissen seiner jungen Frau.
Oder vielleicht sogar mit deren Wissen, überlegte Evie, als sie sich ins Gedächtnis rief, wie widerstandslos sich Ranya den Männern in ihrem Leben unterwarf. Eine andere Welt, eine andere Kultur, eine andere Art zu leben. Ihr schauderte.
„Der Mann draußen fährt weg“, berichtete Harry.
Was nur bedeuten konnte, dass Raschid jede Sekunde kommen würde! „Harry!“, bat Evie flehentlich. „Verschwinde hier, bevor Raschid kommt. Bitte …“
„Aber …“
„Kein Aber!“,
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