Julia Liebeskrimi Band 09
übertönen.
„Ich lege noch einen kurzen Zwischenstopp bei den Ruinen ein.“
„Das ist keine gute Idee! Diese Wolken …“ Er unterbrach sich, als ein durchdringendes Kreischen ertönte. „Im Norden hat es eine Menge Niederschläge gegeben. Unsere Instrumente haben zwar noch keine Sturmflutwarnung registriert, aber … Was? Okay, okay“, schrie er jemand anders zu. „Ich komme.“
„Ich bleibe nur ein paar Minuten“, versicherte sie ihm, als sie seine Aufmerksamkeit wieder hatte. „Ich will nur noch ein paar Aufnahmen von dem Turm machen, in dem die weinende Frau gefangen war. Ich schätze, dass ich in eineinhalb Stunden wieder oben bin.“
„Na schön“, stimmte er schließlich mit hörbarem Widerstreben zu. „Aber nimm dein Handy mit, und klemm die Beine unter den Arm, wenn ich anrufe und es dir sage.“
„Mach ich.“
Erpicht darauf, noch eine letzte dramatische Sequenz von dem Turm zu filmen, griff Sydney sich den Hartschalenkoffer mit der Minikamera und den verschiedenen Objektiven, schloss den Wagen ab und versenkte den Schlüssel in einer ihrer vielen Taschen. Das Handy verschwand in einer anderen. Gott sei Dank hatte sie sich heute Morgen beim Aufstehen für ihre ausgebeulte Armeehose und die Turnschuhe entschieden! Sie schulterte den Kamerakoffer und begann mit dem Abstieg. Sie hatte den Weg inzwischen oft genug hinter sich gebracht, um jeden Stolperstein, jede Krümmung und jede Stelle, an der man abrutschen konnte, auswendig zu kennen.
Fünfundzwanzig Minuten später hatte sie die Stelle unterhalb der Ruinen erreicht. Verschwitzt von der Strapaze und der in der Luft liegenden Feuchtigkeit, dankte sie dem Himmel, als der Wind zunahm. Die frische Brise fuhr ihr durchs Haar, das ihr im Nacken klebte. Einen Moment später hatte sie das Auge am Sucher und bemühte sich, genau die richtigen Winkel zu finden.
Versunken in ihre Aufgabe, bewegte sich Sydney am Flussufer entlang und filmte den Turm, wobei sie dem schmalen schwarzen Rechteck des Fensters besondere Aufmerksamkeit schenkte. Sie wünschte sich sehnlich, auf den Felsvorsprung klettern zu können, um in das Gefängnis der weinenden Frau zu gelangen, aber Henrys Enkel hatten die Aluminiumleitern bereits abtransportiert.
Sie drehte den dreißigminütigen Betacam-Film ab, warf ihn in ihren Koffer und wollte gerade einen neuen einlegen, als der Wind zunahm und durch den Canyon pfiff. Anschwellend. Abschwellend. Ein durchdringender Schrei.
Aiii. Eee-aiiii.
Sydneys Nackenhaare stellten sich auf. Sie hatte eben beschlossen zusammenzupacken, als das Rumpeln des Donners sie veranlasste, den Kopf hochzureißen. Am Himmel hatten sich schwarze Gewitterwolken zusammengebraut und schoben sich vor die Sonne.
„Oje! Höchste Zeit, die Hühner zu satteln, Mädchen!“
Wo Donner war, waren die Blitze nicht weit. Oder war es andersherum? Wie auch immer, auf jeden Fall hatte sie keine Sehnsucht danach, von diesen zwei Millionen Ampere durchzuckt zu werden, von denen Reece gesprochen hatte.
Er bestärkte sie in ihrem Beschluss, als er einen Moment später anrief.
„Sieh zu, dass du wegkommst“, befahl er. „Sofort! Im Norden schüttet es bereits.“
„Ich bin schon auf dem Weg.“
„Ruf mich an, sobald du oben bist.“
„Mach ich.“
Sie hatte gerade die Handkamera in dem Koffer verstaut, als ein anderes Geräusch das unheimliche Pfeifen des Windes übertönte. Geröll kullerte einen Abhang hinunter. Das Knirschen von Schritten. Sie fuhr herum und erstarrte vor Schreck.
Sebastian kam auf sie zu. Langsam. Unaufhaltsam. Sein silbernes Haar wehte im Wind, aber die teuflisch aussehende Automatikpistole lag ruhig in seiner Hand. Der Hass in seinen schwarzen Augen sprang Sydney an.
„Ich wusste, dass Sie gelogen haben. Sie haben Chalo Canyon nicht verlassen.“
Sie machte sich nicht die Mühe zu fragen, woher er von ihrer überstürzten Abreise wusste. Jede Neuigkeit verbreitete sich in einer Kleinstadt mit Lichtgeschwindigkeit. Davon abgesehen war sie sich nicht sicher, dass sie mit dem baseballgroßen Kloß in ihrem Hals überhaupt sprechen konnte.
„Leute wie Sie lügen immer.“
„Das ist nicht wahr. Ich fahre ab. Heute. Jetzt gleich, wenn Sie nur …“
Sie schluckte das Ende ihres Satzes hinunter und wich stolpernd ein paar Schritte zurück, während er unaufhaltsam näher kam. Ihre Finger umklammerten den Schulterriemen des Kamerakoffers wie einen Rettungsanker.
„Haben Sie mein Auto nicht gesehen? Den Blazer?“, fragte
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