Julia Liebeskrimi Band 09
darauf zu wie eine Motte in das Licht.
Bloß raus hier.
Sie musste sofort hier raus.
Weg von den Erinnerungen.
Weg von dem Schmerz.
Sie heftete ihren Blick fest auf den Teppich aus Sonnenlicht, der über der Schwelle lag, und redete sich gut zu, dass der Schmerz schon vergehen werde, sobald sie endlich wieder frische Luft atmete, sobald sie die Schwelle übertreten hätte. Doch plötzlich kam ein kleines Mädchen mit blonden Locken durch die offene Tür in den Laden gerannt.
„Mommy! Mommy!“
Mary blieb ruckartig stehen. In ihren Augen war diese Situation nur ein weiterer Beweis für die Grausamkeit des Lebens. Wenn Hope nicht tot wäre …
„Mommy! Wo bist du?“, rief das kleine Mädchen.
Mary schluckte den Kloß in ihrem Hals herunter und trat aus dem Schatten ins Licht. Sie konnte nicht anders, auch wenn es ihr noch so wehtat, weil das Mädchen offensichtlich beunruhigt war. Doch die Worte, die ihr auf der Zunge lagen, kamen ihr nicht über die Lippen. Denn als der Blick des Kindes auf sie fiel, verwandelte sich die Beunruhigung auf seinem Gesicht in Freude.
„Mommy! Mommy! Wir warten schon auf dich. Daddy will uns ein Eis kaufen, und ich will Vanille mit Erdbeersoße.“
Mary brachte keinen Ton heraus und starrte das Kind voller Entsetzen ungläubig an. Dann fiel über die Schulter des Mädchens ein Schatten, und gleich darauf erschien ein Mann im Türrahmen.
„Ach, da bist du“, sagte er und nahm das kleine Mädchen bei der Hand.
Mary stockte der Atem. Verdammt, Gott … erst nimmst du mir jeden Grund zum Leben und lässt mich allein zurück. Willst du mir jetzt auch noch meinen Verstand wegnehmen?
Der Mann schaute Mary an und fragte mit einem Grinsen: „Na, Honey, hast du wieder mal etwas entdeckt, ohne das du nicht leben kannst?“
Mary stöhnte und wich einen kleinen Schritt zurück. Warum passiert das? Die Bemerkung des Mannes war früher zwischen ihr und Daniel ein immer wiederkehrender Witz gewesen – der jetzt allerdings ganz und gar nicht lustig war.
Nun trat der Mann über die Schwelle und kam weiter in den Laden herein. Als Mary sein Gesicht sah, fing sie an zu zittern. Das schwarze Haar, die blauen Augen und dieses kantige Kinn mit dem kleinen Grübchen. Daniel? O Gott … Daniel.
„Mary … Darling … ist alles okay mit dir? Du wirkst ein bisschen blass.“
Er legte ihr eine Hand auf die Schulter und die andere unters Kinn.
Sie schaute ihn voller Entsetzen an. Sie konnte seine Finger spüren. Das war unmöglich. Sie holte tief Atem und schloss die Augen. PTS, das war es. Posttraumatisches Syndrom, so nannte man das, was ihr gerade wiederfuhr. Wenn sie die Augen öffnete, würde er fort sein. Alles würde fort sein.
Doch als Mary die Augen tatsächlich wieder öffnete, war er immer noch da. Und mehr noch: Er kam so nah, dass sie seinen Atem auf ihrem Gesicht spüren konnte.
„Daniel? Bist du das?“
Er lächelte. „Der Osterhase bin ich auf jeden Fall nicht“, scherzte er.
Dann wurde ihr schwarz vor Augen.
„Mary … Darling … kannst du mich hören?“
Mary stöhnte. „Mach, dass sie weggehen“, stöhnte sie.
Daniel runzelte die Stirn. „Was soll weggehen?“
„Die Träume. Mach, dass sie alle weggehen.“
Er schüttelte leicht irritiert den Kopf, während er fortfuhr, ihre Stirn mit einem feuchten Taschentuch zu betupfen. Bevor er ihr etwas antworten konnte, schlüpfte Hope zwischen sie und zupfte ihren Vater am Ärmel.
„Daddy, was ist mit Mommy?“
„Vielleicht war ihr einfach nur zu heiß.“
Die Stimme seiner Tochter zitterte leicht, als sie fragte: „Stirbt sie jetzt?“
„Nein, Baby … aber nein! Es wird ihr gleich wieder gut gehen. Da, sieh nur! Sie macht schon die Augen auf.“
Mary merkte, dass sie sich auf den Klang der Stimmen konzentrierte. In welchem Traum würde sie wohl diesmal aufwachen, wenn sie die Augen öffnete? In einem aus ihrer Vergangenheit oder in einem, der in einer irgendwie gearteten Zukunft lag? Sie verspürte den fast unbezähmbaren Drang, ganz laut zu schreien. Himmel, sie war drauf und dran, den Verstand zu verlieren. Das war die einzige Erklärung dafür, dass sie ständig zwischen Traum und Wirklichkeit schwankte. Eigentlich sollte sie es nicht überraschen, dass es nun endlich passierte. Sie hatte einen Nervenzusammenbruch. Ende der Durchsage. Neugierig darauf, was als Nächstes kam, öffnete sie die Augen.
„Na, da siehst du es“, sagte Daniel. „Ich sagte doch, dass es ihr gleich wieder gut geht.“
Weitere Kostenlose Bücher