Julia Quinn
gemacht werden. Und Oliver oder den französischen
Agenten anzugreifen würde bloß ihren Tod zur Folge haben. Die einzige
Möglichkeit, die ihr offen stand, war, Zeit zu gewinnen, bis Blake und James
sie erreichten.
Aber was würde dann geschehen? Sie
hatten noch nicht einmal das Überraschungsmoment auf ihrer Seite, denn Oliver
wusste schon von ihrer Anwesenheit.
Sie hielt die Luft an. Oliver schien
sich wegen der Präsenz der Agenten des Kriegsministeriums erstaunlich wenig
Sorgen zu machen. Unwillkürlich hob sie den Blick zum Kliff, das über dem
Strand aufragte, doch sie konnte nichts erkennen.
»Dein Ehemann wird nicht zu deiner
Rettung eilen«, erklärte Oliver mit grausamer Befriedigung in der Stimme. »Meine
Männer nehmen sich seiner an, gerade jetzt, da wir hier reden.«
»Warum haben Sie mich dann hierher
gebracht?« fragte sie tonlos, während ihr Herz in tausend Stücke zersprang. »Sie
brauchen mich doch gar nicht.«
Er zuckte gleichgültig mit den
Schultern. »Aus einer Laune heraus. Ich wollte, dass er weiß, dass ich dich in
meiner Gewalt habe. Ich wollte, dass er mit ansieht, wie ich dich Davenport
hier übergebe.«
Der Mann, den er Davenport genannt
hatte, lachte leise und zog sie näher zu sich. »Sie könnte sich als ganz
unterhaltsam erweisen.«
Oliver warf ihm einen Blick zu. »Bevor
ich sie mit Ihnen gehen lasse ...«
»Ich kann nicht abfahren, bevor die
Ladung eintrifft«, sagte Davenport kurz angebunden. »Wo, zur Hölle, bleibt sie
eigentlich?«
Sie? Caroline blinzelte und bemühte sich,
keinerlei Reaktion zu zeigen.
»Sie kommt«, entgegnete Oliver
scharf. »Und wie lange wissen Sie schon von Ravenscroft?«
»Ein paar Tage. Vielleicht eine
Woche. Sie sind nicht die einzige Transportmöglichkeit, die mir offen steht.«
»Sie hätten es mir sagen sollen«,
knurrte Oliver.
»Sie haben mir keinen Anlass
gegeben, Ihnen über die Beschaffung eines Bootes hinaus zu vertrauen.«
Caroline nutzte die Versunkenheit
der beiden Männer in ihr Streitgespräch, um den Strand und die Klippen mit den
Augen nach irgendeinem Anzeichen für Aktivitäten abzusuchen. Blake war
irgendwo da oben und rang um sein Leben, und sie war zum Nichtstun verdammt.
Nie zuvor in ihrem Leben hatte sie eine so vollkommene, überwältigende
Hoffnungslosigkeit verspürt. Sogar angesichts der Reihe von abscheulichen
Vormündern hatte sie die Hoffnung nie ganz verlassen, dass irgendwann einmal
alles gut werden würde. Wenn jedoch Blake umgebracht wurde ...
Ein Schluchzen würgte sie. Das war
so schrecklich, dass sie noch nicht einmal darüber nachdenken wollte.
Doch dann nahm sie aus dem
Augenwinkel am Ende des Pfades, den sie noch vor wenigen Minuten selbst
hinabgeklettert war, eine Bewegung wahr. Sie bekämpfte den Drang, den Kopf zu
drehen und dorthin zu starren; wenn es Blake oder James waren, die zu ihrer
Rettung eilten, dann wollte sie ihr Kommen nicht vorzeitig verraten.
Aber als die Gestalt näher kam,
erkannte Caroline, dass sie viel zu klein war, um James oder Blake zu gehören,
oder überhaupt irgendeinem Mann. Die Figur bewegte sich viel mehr in einer Art
und Weise, die eindeutig weiblich war.
Erstaunt öffnete sie die Lippen.
Carlotta De Leon. Sie musste es sein. Die Ironie der Situation war unglaublich.
Carlotta kam näher und räusperte
sich leise, sobald sie in Hörweite war. Oliver und Davenport brachen ihren
Streit augenblicklich ab und wandten sich zu ihr um.
»Haben Sie sie?« verlangte Davenport
zu wissen.
Carlotta nickte, dann sprach sie;
ihre Stimme wies einen kaum merklichen, rollenden Akzent auf. »Es war zu
gefährlich, die Liste herzubringen. Aber ich habe sie in meinem Gedächtnis
gespeichert.«
Caroline starrte die Frau an, die in
gewisser Weise verantwortlich für ihre Ehe mit Blake war. Die Spionin war
zierlich, hatte alabasterfarbene Haut und schwarze Haare. Ihre Augen wirkten
müde. Gerade so, als hätten sie schon zu viel gesehen, als gehörten sie
eigentlich jemandem, der wesentlich älter war.
»Wer ist diese Frau?« erkundigte
sich Carlotta.
»Caroline Trent«, antwortete Oliver
Prewitt.
»Caroline Ravenscroft«, verbesserte
sie ihn scharf.
»Ach ja, Ravenscroft. Wie dumm von
mir zu vergessen, dass du ja jetzt eine Ehefrau bist.« Er zog seine Taschenuhr hervor und ließ den Deckel aufspringen. »Verzeihung, inzwischen schon eine
Witwe.«
»Fahren Sie zur Hölle«, fauchte sie.
»Daran hege ich keinen Zweifel, aber
ich glaube, dass du mit Mr. Davenport zu
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