Julia Quinn
ich sagen ... übertrieben?«
»Welche Frau, bitte sehr?«
»Du weißt schon, die mit den roten
Haaren und den ...« Sie hob die Hände in Brusthöhe und vollführte eine
ausladende Geste.
»Tante Agatha, sie war
Opernsängerin!«
»Nun ja, du hättest sie mir wirklich
nicht vorstellen sollen«, erklärte sie etwas verschnupft.
»Das hatte ich auch nicht vor«,
gab er gereizt zurück. »Aber du kamst ja mit dem Feingefühl einer Kanonenkugel
geradewegs auf uns zu!«
»Wenn du jetzt mich beleidigen
willst ...«
»Ich habe versucht, dir aus dem Weg
zu gehen«, unterbrach er sie. »Ich wollte eine andere Richtung
einschlagen, doch du ließest es ja nicht zu.«
Sie legte dramatisch die Hand an die
Brust. »Verzeih, dass ich eine mich um dich sorgende
Verwandte bin! Seit Jahren wünschen wir uns nun schon, dass du endlich heiratest, und ich machte mir lediglich Gedanken um deine Begleiterin.«
James atmete tief durch und bemühte
sich, seine Anspannung loszuwerden. Niemand konnte ihm so wie seine Tante das
Gefühl vermitteln, noch ein sechzehnjähriger Grünschnabel zu sein. »Ich
glaube, dass wir uns eben über Miss Hotchkiss unterhalten haben«, teilte
er ihr streng mit.
»Ach ja!« Agatha trank einen
Schluck Tee und lächelte. »Miss Hotchkiss. Ein reizendes Mädchen. Und so
ausgeglichen! Ganz anders als diese oberflächlichen Londoner Geschöpfe, denen
man immer bei Almack's begegnet. Wenn man dort einen Abend verbringt, könnte
man meinen, Intelligenz und gesunder Menschenverstand seien bei den Briten
längst ausgestorben.«
James stimmte in dieser Hinsicht
vollkommen mit ihr überein, aber jetzt war nicht der Zeitpunkt, um darüber zu
diskutieren. »Miss Hotchkiss ...?« erinnerte er sie.
Seine Tante stutzte. »Ach so, ja.
Ich weiß nicht, was ich ohne sie machen sollte.«
»Vielleicht wärst du um fünfhundert
Pfund reicher ohne sie?«
Sie stellte ihre Tasse geräuschvoll
auf den Unterteller. »Du wirst doch wohl nicht ausgerechnet Elizabeth verdächtigen!«
»Sie hat Zugang zu deinen
persönlichen Unterlagen«, gab er zu bedenken. »Hast du vielleicht
irgendetwas Belastendes aufgehoben? Immerhin beschäftigt sie sich seit Jahren
mit deinen Angelegenheiten.«
»Nein«, widersprach sie sehr
ruhig und bestimmt. »Nicht Elizabeth. So etwas würde sie niemals tun.«
»Verzeih mir, Tante Agatha, aber wie
kannst du dir dessen so sicher sein?«
Sie brachte ihn mit einem Blick zum
Schweigen. »Ich denke, du weißt, dass ich über eine ausgezeichnete Menschenkenntnis verfüge. Das sollte genügen.«
»Natürlich hast du eine gute
Menschenkenntnis, aber ...«
Sie hob die Hand. »Miss Hotchkiss
ist die Verkörperung von Freundlichkeit, Güte und Ehrlichkeit. Und jetzt will
ich nichts mehr davon hören.«
»Wie du meinst.«
»Wenn du mir nicht glaubst,
verbringe doch einfach ein wenig Zeit mit ihr. Dann wirst du ja sehen, dass ich
Recht habe.«
James lehnte sich zufrieden zurück.
»Genau das werde ich tun.«
In dieser Nacht träumte er von ihr.
Sie beugte sich über dieses verdammte rote Buch, ihr langes blondes Haar fiel
ihr offen über die Schultern und schimmerte hell wie Mondlicht. Sie trug ein
züchtiges weißes Nachthemd, das ihren Körper vollständig verhüllte, doch
irgendwie wusste er genau, wie sie darunter aussah, und er begehrte sie so sehr
...
Dann rannte sie vor ihm davon. Über
die Schulter hinweg lachte sie ihm zu; ihr langes Haar wehte im Wind und kitzelte sein Gesicht, wenn er den Abstand zu ihr verringerte. Doch immer, wenn er
die Arme ausstreckte, um sie festzuhalten, entkam sie ihm. Und immer, wenn er
glaubte, nahe genug zu sein, um den Titel des Buches entziffern zu können,
verschwammen die goldenen Buchstaben vor seinen Augen.
Atemlos schreckte James aus dem
Schlaf. Die Morgendämmerung brach gerade an. Ihm war schwindelig, und er
konnte nur an eines denken. An Elizabeth Hotchkiss.
Elizabeth traf an diesem Morgen stirnrunzelnd
in Danbury House ein. Sie hatte sich fest vorgenommen, das Buch keines
Blickes mehr zu würdigen, doch als sie am vergangenen Tag nach Hause gekommen
war, lag es auf ihrem Bett und schien sie geradezu herauszufordern, es
aufzuschlagen.
Sie hatte sich gesagt, dass sie nur
flüchtig hineinschauen würde; sie wollte einfach nachsehen, ob sie etwas
darüber fand, wie man geistreich war und wie man einen Mann zum Lachen brachte.
Doch ehe sie sich versah, saß sie auf der Bettkante und war völlig in das Buch
vertieft.
Jetzt schwirrten ihr so viele
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