Julia Quinn
»Er ließ
ihre Hand sinken, nahm die andere und küsste sie ebenfalls.
»Mr. Siddons!« entfuhr es ihr
erschrocken. »Sind Sie von Sinnen?«
Er lächelte. »Ich bin froh, dass Sie
noch nie zuvor geküsst worden sind.«
»Sie sind von Sinnen. Restlos. Ich
bin sehr wohl schon einmal geküsst worden«, verteidigte sie sich.
»Ihr Vater zählt nicht.«
Elizabeth wäre am liebsten im Boden
versunken. Ihre Wangen glühten, und ihr war klar, dass er ganz genau wusste,
dass er Recht hatte. In ihrem kleinen Dorf gab es nicht viele unverheiratete
Männer, und keiner von ihnen war so welterfahren, um ihre Hand zu küssen. »Wer sind
Sie?« flüsterte sie.
Er warf ihr einen eigentümlichen
Blick zu. »James Siddons. Das wissen Sie doch.«
Sie schüttelte den Kopf. »Sie haben
noch nie zuvor als Verwalter gearbeitet. Darauf würde ich mein Leben verwetten.«
»Möchten Sie meine Zeugnisse
sehen?«
»Ihre ganze Haltung passt nicht
dazu. Ein Bediensteter würde ...«
»Ich bin aber nicht direkt ein
Bediensteter«, unterbrach er. »Ebenso wenig wie Sie. Ich hörte, Sie
gehören dem ortsansässigen Adel an?«
Sie nickte.
»Meine Familie ist ebenfalls sehr
alt«, fuhr er fort. »Leider haben wir mit unserem Vermögen
nicht auch unseren Stolz verloren.«
»Leider?«
Er schmunzelte leicht. »Er führt zu
unangenehmen Situationen.«
»Wie dieser«, stellte Elizabeth
fest. »Sie müssen auf der Stelle in den Salon zurückkehren. Lady Danbury
wundert sich bestimmt, warum ich die Tür hinter mir geschlossen habe und was
wir so lange machen. Ich weiß zwar nicht, wie Sie darüber denken, aber ich für
meinen Teil habe nicht die geringste Lust, Erklärungen abgeben zu müssen.«
James starrte sie an und fragte
sich, warum er sich plötzlich so fühlte, als sei er von seiner Gouvernante
zurechtgewiesen worden. Er musste lachen. »Das können Sie gut!«
»Was denn?«
»Mit einem erwachsenen Mann
sprechen, als wäre er noch ein kleiner Junge. Ich bin sehr zerknirscht.«
»Das sind Sie nicht«,
widersprach sie. »Sehen Sie sich doch bloß an! Sie wirken überhaupt nicht
zerknirscht, sondern grinsen über das ganze Gesicht!«
Er neigte den Kopf zur Seite. »Ich
weiß.«
Elizabeth hob resigniert die Hände.
»Ich muss jetzt gehen.«
»Sie bringen mich zum Lächeln.«
Seine sanften, eindringlichen Worte
ließen sie im Gehen innehalten.
»Drehen Sie sich um,
Elizabeth.«
Da war mit einem Mal ein seltsames
Band zwischen ihnen. Elizabeth wusste noch nichts von der Liebe, aber sie
ahnte, dass sie sich in diesen Mann verlieben könnte. Sie spürte es tief in
ihrem Herzen, und das machte ihr Angst. Er war kein Mann, den sie heiraten
konnte. Er hatte kein Vermögen, das hatte er selbst gesagt. Wie sollte sie
Lucas nach Eton schicken können, mit einem Verwalter zum Ehemann? Wie sollte
sie Susan und Jane ernähren und einkleiden? Susan war zwar erst vierzehn, aber
schon bald würde sie debütieren wollen. London kam dafür nicht infrage, doch
selbst ein kleiner Debütantinnenball auf dem Land kostete bereits eine Menge
Geld. Und das hatte weder sie noch der Mann, der jetzt hinter ihr stand –
wahrscheinlich der einzige Mann, dem es je gelingen würde, ihr Herz zu
erobern.
Sie hatte schon früher oft gedacht,
dass das Leben sie ungerecht behandelte, aber das jetzt war eine reine Qual.
»Drehen Sie
sich um, Elizabeth.«
Sie ging weiter, ohne stehen zu
bleiben. Es war das Schwerste, was sie je getan hatte.
Später am Abend kauerten Susan, Jane und
Lucas Hotchkiss nebeneinander auf dem kalten Fußboden des Flurs im ersten
Stock, genau vor der Zimmertür ihrer ältesten Schwester.
»Ich
glaube, sie weint«, flüsterte Lucas.
»Natürlich weint sie!« zischte
Jane. »Das kann sogar der größte Dummkopf hören!«
»Die Frage
ist nur, warum sie weint«, warf Susan ein.
Darauf hatten alle keine Antwort.
Sie zuckten zusammen, als das Schluchzen vorübergehend lauter wurde. »Sie hat
sich in letzter Zeit große Sorgen wegen des Geldes gemacht«, meinte Lucas
zögernd.
»Das hat
sie doch schon immer getan«, wandte Jane ein.
»Was völlig normal ist«,
ergänzte Susan. »Menschen, die kein Geld haben, machen sich immer Sorgen
deswegen.«
Die beiden Jüngeren nickten. »Haben
wir denn wirklich gar nichts?« flüsterte Jane.
»Ich
fürchte, es ist so«, erwiderte Susan.
Lucas' Augen begannen verdächtig zu
glänzen. »Ich werde nicht nach Eton gehen, nicht wahr?«
»Doch, doch«, versicherte Susan
hastig. »Natürlich gehst du.
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