Julia Quinn
...
Lieber Himmel, er hatte nicht vorgehabt,
hier zu sitzen und sich ihre Vorzüge aufzuzählen. Tatsache war, sie hatte keine
einflussreiche Familie, die sie beschützen konnte, und daher würden Gentlemen
versuchen, sich Übergriffe zu erlauben. Je mehr er darüber nachdachte, desto
weniger war er davon überzeugt, dass sie noch so rein und unschuldsvoll wie
jetzt sein würde, wenn sie einmal vor den Altar trat.
»Wir werden morgen eine weitere
Unterrichtsstunde im Boxen abhalten«, entfuhr es ihm.
»Ich dachte, Sie hätten gesagt
...«
»Ich weiß, was ich gesagt
habe«, brauste er auf. »Doch dann habe ich angefangen nachzudenken.«
»Wie gewissenhaft von Ihnen«,
murmelte sie.
»Elizabeth, Sie müssen lernen, sich
zu verteidigen. Männer sind Schurken. Alle.«
»Sie selbst eingeschlossen?«
»Ich vor allem! Haben Sie eine
Ahnung, was ich eben tun wollte, als Sie sich mein Auge ansahen?«
Sie schüttelte den Kopf.
Seine Augen flammten auf vor Zorn –
und vor Verlangen. »Wenn Sie mir nur eine einzige Sekunde länger Zeit gegeben
hätten, dann hätte ich den Arm um Sie gelegt und Sie auf meinen Schoß gezogen,
noch ehe Sie bis zwei hätten zählen können!« Sie antwortete nicht, was ihn
aus einem unerfindlichen Grund zur Weißglut trieb. »Haben Sie verstanden, was
ich eben gesagt habe?« fragte er nach.
»Ja«, erwiderte sie kühl. »Und
ich werde diese Lektion als entscheidenden Teil meiner Ausbildung betrachten.
Ich bin viel zu vertrauensselig.«
»Da haben Sie verdammt Recht«,
grollte er.
»Natürlich ergibt sich daraus ein
interessantes Dilemma für die morgige Unterrichtsstunde.« Sie verschränkte
die Arme und sah ihn prüfend an. »Zum einen haben Sie vorgeschlagen, ich sollte die ...
amouröseren Aspekte des Flirtens studieren.«
James hatte das Gefühl, als würde
ihm nicht gefallen, was er als Nächstes zu hören bekam.
»Sie sagen, ich müsse lernen zu
küssen, und...«, dabei warf sie ihm einen mehr als zweifelnden
Blick zu, »... und Sie sagen, Sie müssten derjenige sein, der es mir
beibringt.«
James fiel keine Antwort ein, die
ihn in einem etwas schmeichelhafteren Licht hätte dastehen lassen, also schwieg
er, um seine Würde wenigstens dadurch zu behalten, indem er Elizabeth finster
ansah.
»Und nun wiederum sagen Sie mir, ich
solle niemandem vertrauen«, fuhr sie fort. »Warum sollte ich also Ihnen
vertrauen?«
»Weil ich nur Ihr Bestes
will!«
»Ha!«
Kürzer, präziser und wirkungsvoller
konnte ein Rüffel nicht sein.
»Warum helfen Sie mir?«
flüsterte sie auf einmal. »Warum haben Sie mir dieses bizarre Angebot gemacht
und mir Ihre Dienste angeboten? Und das Ganze ist bizarr, das müssen Sie
doch auch erkannt haben.«
»Warum haben Sie mein Angebot
angenommen?« konterte er.
Elizabeth zögerte. Diese Frage
konnte sie ihm unmöglich beantworten. Sie war eine schlechte Lügnerin, und die
Wahrheit konnte sie ihm erst recht nicht sagen. Nun, sicher, ihm würde die
Wahrheit gefallen – dass sie noch eine letzte Woche, mit Glück sogar zwei, in
seiner Gesellschaft verbringen wollte. Sie wollte seine Stimme hören, seinen
Duft einatmen und die Luft anhalten, wenn er ihr zu nahe kam. Sie wollte sich
verlieben und so tun, als sei es für die Ewigkeit. Nein, die Wahrheit kam nicht
infrage. »Es spielt keine Rolle, warum ich es angenommen habe«, erwiderte sie schließlich.
Er stand auf. »Wirklich nicht?«
Ohne es zu merken, wich sie einen
Schritt zurück. Es war so viel einfacher, die Mutige zu spielen, wenn er vor
ihr saß. Aber zu voller Größe aufgerichtet, war er das einschüchterndste männliche Wesen, dem sie je begegnet war, und all ihre verträumten Gedanken,
dass sie sich so behaglich in seiner Gegenwart fühlte, kamen ihr
auf einmal eher dumm und unreif vor.
Jetzt war alles anders. Er war hier.
Er war ganz nah. Und er wollte sie. Das beschwingte Gefühl war fort, das
Gefühl, das es ihr möglich gemacht hatte, in seiner Gegenwart ganz sie selbst
zu sein und alles aussprechen zu können, ohne befürchten zu müssen, dass sie
sich lächerlich machte. Es war einem unendlich viel aufregenderen Gefühl
gewichen, das ihr den Atem raubte und ihre Vernunft auslöschte.
Er hatte den Blick die ganze Zeit
nicht von ihr gewendet. Seine braunen Augen schien dunkler zu werden, als er
näher kam. Elizabeth vermochte sich nicht zu rühren. Die Luft zwischen ihnen
wurde heiß, wie elektrisch aufgeladen – und dann blieb er stehen.
»Ich werde Sie jetzt
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