Julia Saison Band 11
die gewöhnlich nur fürs Abendessen verwendet wurde und jetzt mit Cain Paxtons Frühstücksbestellung schier überquoll. Wieder griff Merritt zur Kaffeekanne, servierte Paxtons Frühstück und füllte seinen Kaffeebecher auf. „Falls Sie sonst keine Wünsche mehr haben, komme ich in ein paar Minuten wieder und schenke Ihnen Kaffee nach.“
„Prima.“
Kurz darauf lichtete sich die Gästeschar. Fast jeder warf auf dem Weg nach draußen neugierige Blicke in Cain Paxtons Richtung. Merritt fragte sich, wie viele von ihnen von seiner Vergangenheit wussten. Vermutlich alle. Rache war nie rechtens oder klug, doch offenbar war er aufgrund der zusätzlichen Zwickmühle seiner Herkunft bis an die Grenzen des Möglichen getrieben worden. Merritt vermutete, dass die Leute dachten, ein Verbrecher wäre nun mal ein Verbrecher, und der Makel sei jetzt nicht mehr auszulöschen.
Bevor Merritt mit der Kaffeekanne noch einmal den Ecktisch aufsuchen konnte, erhob sich Cain Paxton und wollte sein Geschirr am Ende des Tresens abstellen.
Erschrocken hastete Merritt ihm entgegen, um es ihm abzunehmen. „Das ist meine Arbeit“, sagte sie.
„Du siehst aus, als könntest du eine Verschnaufpause brauchen.“
Sein Ton war sachlich, und sein Blick streifte sie kaum, wodurch sie sich in ihrem beigefarbenen Pulli und den Jeans aus dem Discounter noch unbedeutender fühlte. „Mir geht’s gut“, sagte sie mit einem Hauch von zu viel Stolz in der Stimme. „Ich serviere auch noch das Abendessen. Ich beherrsche meinen Job.“
„Entschuldige, dass ich helfen wollte.“ Er schob einen Zwanzigdollarschein über den Tresen. „Sag Alvie, dass sie nichts verlernt hat.“
Er war schon auf dem Weg zur Tür, als Merritt sich so weit erholt hatte, dass sie protestieren konnte. „Ihr Wechselgeld, Sir.“
„Du kannst es behalten“, sagte er, ohne sich umzusehen.
Merritt blickte ihm erstaunt nach, zerrissen zwischen dem peinlichen Wissen, dass er aus Mitleid zu viel Trinkgeld gegeben hatte, und der verwirrenden Frage, warum ein frisch aus der Haft Entlassener, der es sich wohl kaum leisten konnte, so großzügig war.
Leroy nahm ihr die Rechnung und den Zwanziger aus der Hand und zählte das Wechselgeld ab. Er war mittelgroß und sehnig, sein Haar glänzte so stahlgrau wie sein Bart und umrahmte ein Faunsgesicht mit listigen Augen und herabgezogenen Mundwinkeln. Im Gegensatz zu Merritt hatte er zu allem eine Meinung und hielt auch nicht hinterm Berg damit.
„Gib auf dich acht, Schätzchen“, sagte er und händigte ihr das Trinkgeld aus.
„Ich? Was habe ich denn getan?“
„Du hast seine Aufmerksamkeit erregt. Das reicht schon.“
Das war das Dümmste, was er seit langer Zeit von sich gegeben hatte. „Er gibt sich die Schuld daran, dass ich hinke, weil ich so tollpatschig über sein Bein gestolpert bin. Ich habe versucht, es ihm zu erklären.“
„Hab ich nicht gesehen. Allerdings weiß ich, dass du eine Frau bist, und er hat dir ein nettes Trinkgeld gegeben. Cain hat die Frauen schon immer magisch angezogen. Das ist wohl eines der Rätsel der Natur. Vielleicht hat Alvie dir ja erzählt, dass er eine ganze Weile im Knast war?“
„Aber blind ist er wohl kaum“, sagte Nikki, die Leroy ihre Abrechnung samt Einnahmen vorlegte. Sie bedachte Merritt mit einem zuckersüßen Lächeln, das nichts weiter besagte als: Sieh zu, wie du damit klarkommst.
Merritt ignorierte sie, band ihre Schürze ab und ging in Gedanken an Cain Paxtons Herkunft zurück in die Küche. Eine Kleinstadt wie Almost mit einer Bevölkerungszahl von knapp fünftausend bot ein gehöriges Potenzial für Skandale, Klatsch und Tratsch. Und die Opfer dieses Tratsches taten Merritt leid.
Alvie begann mit den Vorbereitungen fürs Mittagsgeschäft. Der Restaurantbetrieb faszinierte Merritt nach wie vor, forderte ihr körperlich aber auch eine Menge ab.
„Wenn du nichts dagegen hast, gehe ich nach Hause und richte mich auf das Unwetter ein“, sagte sie zu ihrer Chefin.
„Nimm den Pick-up. Ich habe fast alles gehört, was du eben zu Leroy gesagt hast.“
„Ich bin gestolpert, nicht gefallen. Mir geht’s gut.“ Merritt wusste Alvies Besorgnis zu schätzen, doch manchmal tat sie des Guten zu viel. „Und vergiss nicht, dass ich keinen gültigen Führerschein habe.“ Sie hatte sich nie die Mühe gemacht, ihren in New Jersey ausgestellten Führerschein umschreiben zu lassen, weil sie nicht wusste, wie lange sie in Almost bleiben würde. Und sie weigerte sich
Weitere Kostenlose Bücher