Julia Saison Band 11
von Belustigung auf. „Wenn ich dir hätte erklären dürfen, warum ich geseufzt habe, würdest du deine Zeit nicht mit Beschwerden über ein kleines Wort vergeuden.“ Die Belustigung wich; er wurde ernst. „Ich wollte sagen, dass ich es nicht bereue, dich geküsst zu haben. Sonst wäre ich entweder ein Lügner oder ein Holzklotz. Aber mir tut es leid, dass du mir jetzt nicht mehr trauen willst.“
Hielt er sie für naiv oder dumm? „Nimm es nicht persönlich. Ich kann niemandem trauen.“
„Ich weiß.“ Er wies auf sie und dann auf sich selbst. „In gewisser Weise erkennen wir uns einer im anderen wieder, stimmt’s? Deswegen muss ich dir etwas geben.“
„Mir etwas geben …?“ Ihr instinktives Misstrauen schlug Alarm. „Doch nicht etwa eine Vogelfeder oder so etwas? Du bist ja offenbar Indianer … Verzeihung, du stammst von den amerikanischen Ureinwohnern ab. Von den Sioux, sagte Alvie?“
„Mütterlicherseits, aber ich bin auch von der Kultur meines Vaters geprägt. Merritt, hier geht es nicht um Totemtiere oder Talismane.“
„Gut.“
„Aber ich möchte nicht mit der Vorstellung leben, dass du Angst vor mir hast. Ich möchte meine Seele nicht damit belasten. Deshalb musst du es annehmen.“
„Was?“
„Mein Wort.“
Er wartete, bis sie ihn zögernd ansah. Dann sagte er hastig: „Ich würde nie etwas von dir verlangen, was du mir nicht geben willst.“
Das war alles?
Ein paar Sekunden später hatte Merritt das Pflaster ausgepackt. Das leichte Zittern ihrer Hände verriet ihren inneren Aufruhr und war schuld daran, dass sie die Verpackung fallen ließ. Sie war froh, sich – und ihn – durch die Beschäftigung ablenken zu können.
„Wie lange leidest du schon an diesem Händezittern?“, fragte Cain ruhig in ihre Gedanken hinein. Er ließ sich anscheinend nicht ablenken.
Merritt glaubte, mit der Zeit und dank ihres eisernen Willens hätte das Zittern nachgelassen. Sie legte das Pflaster auf die Wunde. Seiner Schweigsamkeit hätte sie entnehmen können, dass er ein besserer Beobachter war als mancher andere. Sie überlegte kurz, ob er das Recht hatte, die Wahrheit zu erfahren.
„Fast solange ich denken kann“, gestand sie schließlich. „Und es kommt und geht. Als Kind habe ich immer so gefroren, und wir waren arm, da konnte ich mich darauf herausreden, dass mir kalt wäre.“
Niemand wusste von ihrer Vergangenheit, nicht einmal Alvie, der sie nur gesagt hatte, dass sie keine Verwandten mehr hätte. Wenn sie sich Cain anvertraute, verstieß sie gegen ihre Vorsätze, die sie bei ihrer Abreise aus New Jersey gefasst hatte. Oder schon früher. Doch er hatte gesagt, das Vertrauensproblem sei eine Gemeinsamkeit, die sie teilten. Im Licht von Alvies Erklärung für seine Verhaftung glaubte sie es ihm.
„Okay“, sagte sie, zu einem Entschluss gekommen. „Aber es bleibt unter uns, ja? Alvie glaubt, ich würde nicht über meine Familie reden und keine Verwandten besuchen, weil ich Waise bin, aber das stimmt nur zur Hälfte. Na ja, ich weiß nicht, ob mein Vater noch lebt oder tot ist, aber das ist auch nicht so wichtig.“
Cain wartete.
„Ich habe versucht, meine Mutter zu lieben“, begann Merritt. „Sie war kreativ und herrlich lustig, wenn sie nüchtern war. Aber als mein Vater sie … uns … verlassen hatte, war sie nie mehr nüchtern genug, um kluge oder vernünftige Entscheidungen zu treffen.“
„Und ihre Entscheidungen verletzten dich genauso wie sie selbst?“
„So etwas nennt man seelischen Ballast.“ Sie öffnete ein weiteres Pflaster und legte es unterhalb des ersten auf. Die Wunde war noch immer nicht vollständig bedeckt, aber es reichte.
„Der letzte Mann in ihrem Leben trat in Erscheinung, als ich in der Abschlussklasse der Highschool war. Stanley hatte einen Sohn namens Dennis, der genauso versoffen und gemein wie Stanley war. Nachts musste ich meine Kommode vor die Tür schieben, um ruhig schlafen zu können, und duschen konnte ich nur während seiner Abwesenheit.“
„Hast du ihm deine lädierte Hüfte zu verdanken?“
„Das hier ist kein Ratespiel, in dem du Punkte sammeln kannst“, versuchte sie einen ungeschickten Scherz zu machen. Als er keine Miene verzog, wandte Merritt den Blick ab und fuhr fort: „Das alles hat sich in Jersey zugetragen. Eines Morgens kam er nach Hause, als ich verspätet aus der Dusche kam. Er packte mich, und, kurz und gut, ich stürzte die Treppe hinunter, als ich mich gegen ihn wehrte. Wahrscheinlich kann ich mich
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