Julia Saison Band 11
verlierst du zu viel Blut und kannst nicht mehr laufen.“
Er gehorchte. „Alles in Ordnung bei dir?“
Machte er Witze? Sie hätte ihn am liebsten angeschrien.
„Merritt?“
Mit einer übermenschlichen Willensanstrengung, so kam es ihr jedenfalls vor, verdrängte sie die bittere Erinnerung an alte Kränkungen genauso wie den Drang, ihm alles entgegenzubrüllen, was sie gerade bewegte. „Gehen wir ins Haus“, sagte sie nur, dabei fühlte sie sich zutiefst erschüttert und verwirrt, gleichzeitig voller Adrenalin, wie die Überlebende irgendeiner Katastrophe. Bis sie sich bewegte. Bei jedem Schritt verzog sie vor Schmerzen das Gesicht. Sie konnte nur hoffen, dass Cain den Weg durch den Schnee aus eigener Kraft schaffte, denn sie selbst fühlte sich, als wäre sie wieder einmal eine Treppe hinunter gestürzt.
Immerhin konnte er stehen, ohne zu schwanken.
„Komm, bevor die ganze Scheune über uns zusammenbricht.“ Sie hinkte los, ohne sich noch einmal umzusehen. Sie war noch nicht allzu weit gekommen, als sie das Knirschen von Schnee hinter sich hörte und wusste, dass er ihr folgte. Auf der Treppe glitt sie auf der zweiten Stufe aus. Cain fasste sie spontan um die Taille, um ihren Sturz zu verhindern.
Merritt ließ ihn an sich vorbei ins Haus treten und verriegelte hinter ihm die Tür gegen Sturm und Schneetreiben. „Setz dich“, wies sie ihn an und schälte sich aus ihrer Jacke. Als sie die Stiefel ausgezogen hatte, saß er bereits auf einem Stuhl. Er wirkte verunsichert.
Wenn er ein schlechtes Gewissen hat, schön, dachte sie, nahm ihm die blutigen Papiertücher ab und warf sie in den Mülleimer neben der Tür. Augenscheinlich hatte die Blutung nachgelassen, und Merritt half Cain zunächst einmal aus der Jeansjacke und dem T-Shirt. Beide waren voller Blut und mussten vor dem Waschen eingeweicht werden. Sie besorgte einen Topf mit warmem Wasser, in das sie ein flüssiges Desinfektionsmittel gab. Aus der Schublade neben dem Waschbecken holte sie zwei saubere Waschlappen und ein Geschirrtuch, tauchte dann einen Lappen ins Wasser und legte ihn auf die Wunde.
„Festhalten“, wies sie Cain an.
Dann wusch sie mit dem zweiten Lappen so viel Blut wie möglich ab, auch dort, wo es bereits in seinem Haar verkrustet war.
„Meines Erachtens nach müsste diese Verletzung mit zwölf bis fünfzehn Stichen genäht werden, aber wir können es mit einem Druckverband versuchen und hoffen, dass er hält.“
„Das ist billiger als der Notarzt, den wir sowieso nicht erreichen, und es wäre ja auch nicht meine erste Narbe.“
Ja, er hatte tatsächlich eine Narbe am Kinn, doch sie war verblichen und betonte noch seine herb-sinnliche Erscheinung. Gab es noch weitere Andenken an ein hartes Leben? Merritt ließ den Blick unwillkürlich über seine ausgeprägten Brustmuskeln und Oberarme wandern und sagte leise: „Bin gleich zurück.“
Sie holte alles, was sie benötigte, und stellte es auf den Esstisch. Dann säuberte sie sein Gesicht besonders um die Wunde herum noch einmal gründlich mit in Wasserstoffperoxid getränkten Wattebäuschen. Hin und wieder ertappte sie Cain, wie er sie verstohlen musterte, aber meistens hielt er die Augen geschlossen.
Als er einmal laut aufseufzte, verteidigte sie sich: „Ich bin so vorsichtig wie möglich.“
„Ich wollte mich nicht beschweren. Deine Berührungen fühlen sich an, als ob mich eine Motte streift.“
Unwillkürlich zog sie eine Grimasse.
„Was ist? Das war ein Kompliment.“
„Alvie nennt mich Motte. Bestimmt meint sie das auch als Kompliment.“
„Du bist nun mal klein.“
„Klein und unbedeutend. Danke, habe verstanden.“
Er stieß ein kurzes, trockenes Lachen aus. „Ungefähr so unbedeutend wie meine Kopfschmerzen. So still und harmlos du auch wirkst, Süße, du hast es doch faustdick hinter den Ohren. In so mancher Hinsicht.“
Merritt hatte es nicht so gemeint, wie er es aufgefasst hatte, wusste jedoch nicht, ob seine Charakterisierung ihrer Person positiv zu bewerten war. Entschlossen, ihre Arbeit zu beenden, um Abstand zu ihm halten zu können, trug sie behutsam Wundsalbe auf.
„Ach“, sagte Cain in plötzlicher Erkenntnis. „Du meintest ‚unbedeutend‘ gar nicht in Bezug auf Intelligenz und Temperament. Du meintest dein Aussehen.“
„Weißt du, ich will hier fertig werden, damit ich endlich schlafen gehen kann. Spätestens um vier Uhr morgen früh fängt mein Tag an.“
„Feigling“, brummte er, und in seinen Augen flackerte ein Hauch
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