Julia Saison Band 17

außer den dunklen Schatten? Wie zum Beispiel die Liebe, die Tony in seinem Tagebuch beschrieben hatte. Was wäre, wenn Tony tatsächlich mit ihm verwandt wäre und seine Sünden gar nicht so schlimm waren?
    Jared wollte nur zu gerne daran glauben, dass ein guter Mann wie Tony ihn in seiner Familie vielleicht eher willkommen geheißen hätte als Tonys Enkelin – Jareds Mutter.
    Mit den Fingern trommelte er auf das Lenkrad. Durch die Regenflecken auf der Scheibe erahnte er mehrere Klinker-Reihenhäuschen. Der Komplex, der auf Tonys alter Ranch gebaut worden war.
    Ob der alte Tony womöglich noch mehr dort vergraben hatte? Familiendokumente, Bilder? Noch ein zweites Tagebuch, in dem er sich seine furchtbaren Sünden wirklich von der Seele geschrieben hatte? Wie groß war die Chance, dass Annette ihre Arbeit im Diner inzwischen beendet hatte?
    Plötzlich schien das Blut wie Feuer durch seine Adern zu strömen. Dieses glänzende hellblonde Haar, die cremefarbene Haut, ihre Lippen …
    Unwillig schnaubte Jared und wischte sich übers Gesicht. Er gehörte keiner Frau. In der Vergangenheit hatte er seinen Anteil an Frauen gehabt, sowohl Rodeo-Häschen als auch Cowgirls. Und nur ein einziges Mal war er zu lange geblieben. Ein Fehler, mit dem er leben musste.
    Von Annette brauchte er ja nur den Zugang zu ihrem Garten. Er blieb noch eine Weile sitzen, da sah er in der Dämmerung plötzlich einen knallroten Wagen durch das rostige Tor fahren.
    War das nicht Annettes Auto? Jared öffnete die Tür und sprang aus dem Truck. Die Luft roch feucht und frisch. Ohne Eile schlenderte er einen mit Rosen gesäumten Weg entlang, der auf die Häuser zuführte. Eines davon gehörte Annette. Schließlich kam er an einer Reihe von Briefkästen vorbei, auf denen jedoch keine Hausnummern standen.
    Unschlüssig blickte Jared sich um. Gerade wollte er umkehren, als er eine Bewegung in einem Erdgeschossfenster bemerkte. Er sah eine Silhouette, halb verdeckt durch gelbe Vorhänge. Es war Annette. Das Licht hinter ihr zeigte sie im Profil, ohne Uniform, aber mit einem deutlich sichtbaren Bauch.
    Ein Baby.
    Langsam strich sie sich über den Bauch, als umfasste sie das Kind darin, und Jared spürte einen scharfen Schmerz. Offensichtlich liebte sie das Baby jetzt schon. Aber wo war der Vater?
    Wo warst du damals?
    Beschämt wandte er sich ab, ballte die Hände zu Fäusten und verschwand, ehe Annette ihn entdecken konnte.
    Am nächsten Tag machte sich Annette vor ihrer Schicht ein Fußbad und massierte sich sorgfältig ihre Füße. Bald würde sie die Arbeit im Diner stark reduzieren und dann vermutlich eine Zeit lang ganz aufgeben müssen. Ruhe, gesunde Ernährung und sich verwöhnen lassen, das hatte ihr der Arzt am Anfang ihrer Schwangerschaft verordnet. Sie hatte eine Praxis im neueren Teil der Stadt gewählt, weil es dort belebter war und weniger persönlich zuging.
    Zum Frühstück aß sie Rührei und Müsli, bevor sie eine Stunde vor Schichtbeginn das Haus verließ, um noch einige Einkäufe zu erledigen. In der Altstadt von St. Valentine gab es ein kleines Kaufhaus und mehrere Boutiquen für Touristen. Sogar ein paar Esel streunten durch die Straßen, Abkömmlinge der Lasttiere, die die damaligen Silberminenarbeiter mitgebracht hatten.
    Inzwischen waren die Silberminen geschlossen, genau wie der Kaolin-Tagebau danach, was einen wirtschaftlichen Abschwung in St. Valentine zur Folge gehabt hatte. Doch allmählich schien sich alles wieder zu ändern, dachte Annette. Mit ihren Einkäufen ruhte sie sich auf einer Bank am Marktplatz im Stadtzentrum aus. Nach den zahlreichen Touristen zu urteilen, ging es allmählich wieder aufwärts.
    Dies war im Grunde Jared zu verdanken. Sein Auftauchen hatte das Interesse an Tony Amati geweckt, sodass die Jacksons dessen mysteriösem Tod auf die Spur gekommen waren, der sich an demselben Abend ereignet hatte, als Einbrecher das Haus des alten Sheriffs Hadenfield verwüstet hatten.
    Von der Kirche klangen Glockenschläge herüber. Davor schmückten Leute die Rankgitter mit weißen Blumengirlanden.
    Eine Hochzeit.
    Erinnerungen stiegen in Annette auf: an ihr Spiegelbild als Braut, in einem so jungfräulich weißen Grace-Kelly-Kleid, dass niemand das Ergebnis des Schwangerschaftstests erahnt hätte, den sie an ihrem Hochzeitstag gemacht hatte. Voller Freude war sie aus ihrer Garderobe gestürzt, um ihrem zukünftigen Ehemann die frohe Neuigkeit zu berichten. Es war ein einziger Albtraum gewesen, als sie die Tür zu