Julia Saison Band 17
kamen herein. Offenbar Touristen, mit ihren Grand-Canyon-Sweatshirts und den weißen City-Sneakers.
Annette ging hin, um ihnen die Speisekarte zu geben, und Jared widmete sich endlich seinem Essen. Die Pommes frites waren zwar inzwischen fast kalt geworden, aber das machte nichts. Jedenfalls nicht, wenn Annette an ihm vorbeiging und ihm ihr hübsches Lächeln schenkte.
Sobald Jared fertig war, stand er auf und legte genug Geld für die Rechnung sowie ein ordentliches Trinkgeld für Annette auf den Tresen.
Heute war sein freier Tag, daher klemmte er sich das Tagebuch unter den Arm und tippte Annette gegenüber an seinen Hut. „Danke noch mal für das Geschenk.“
„Ich danke dir.“ Lächelnd hielt sie seine Geldscheine hoch, steckte sie in die Schürzentasche und nahm die Bestellung der neuen Gäste auf.
Jared sah sie genauer an. Jetzt war er sicher, dass er eine deutliche Wölbung unter ihrer Uniform erkannte. Als er den Diner verließ, dachte er an sein eigenes Kind, und plötzlich verspürte er ein seltsam nagendes Gefühl in seiner Herzgegend.
2. KAPITEL
Ich hatte niemals vor, mich in sie zu verlieben. Sie ist erst achtzehn, und ich bin ein fünfunddreißigjähriger Mann mit einer Vergangenheit, die wie ein Schatten an mir klebt, immer bereit, mir von hinten auf die Schulter zu tippen.
Jared, der in seinem grünen Truck an der Horizon Road saß, legte Tonys Tagebuch neben sich auf den Beifahrersitz. Der geborstene schwarze Asphalt erstreckte sich vor ihm an endlosen Zäunen entlang. Das Weideland ringsum war durchsetzt von wenigen Bäumen, deren kahle Zweige an diesem Februarnachmittag wie Knochen in den grauen, regenschweren Himmel ragten.
Nicht weit außerhalb der Stadt hatte Jared den Motor abgeschaltet und das Tagebuch aufgeschlagen. Von seiner Neugier angetrieben, hatte er das Ding einmal ganz durchgelesen. Aber zu dieser Stelle kehrte er immer wieder zurück.
Meine furchtbaren Sünden.
Eine Vergangenheit, die wie ein Schatten an mir klebt.
Diese Worte bekam er einfach nicht mehr aus dem Kopf. Und sie frustrierten ihn, weil das gesamte Tagebuch voll war von solch vagen Sätzen. Tatsächlich wirkte es vor allem wie ein Ventil für eine Seite Tonys, die Jared nie erwartet hatte: ein liebeskranker Mann, der mehrere Monate lang seine geheimsten Gedanken aufgeschrieben hatte, als wäre es die einzige Möglichkeit, sich mitzuteilen.
Und auf der letzten Seite, wo man eigentlich Antworten darauf vermutet hätte, wer Tony wirklich war und worin seine furchtbaren Sünden bestanden, brachen die Einträge einfach ab.
Typisch für Tonys geheimnisvolles Leben.
Jared warf einen finsteren Blick auf das Buch. Sosehr ihn die namenlose junge Frau interessierte, wobei er sich schon denken konnte, um wen es sich handelte, wollte er Informationen über das Wesentliche. Über die Vergangenheit, die Bekenntnisse, die Tony eigentlich hätte machen sollen.
Andererseits gab es einen Teil in Jared, der von Tonys schlimmen Taten lieber nichts wissen wollte, weil der von allen verehrte Tony, der möglicherweise sein Urgroßvater war, ihm längst viel bedeutete.
Die Vorstellung, dass er außer auf seine Rodeosieger-Gürtelschnalle endlich auch auf irgendetwas anderes in seinem Leben stolz sein könnte, wäre doch zu schön.
Durch die Windschutzscheibe mit den vereinzelten Regentropfen darauf blickte er auf die Straße. Tony hatte also ein paar Sünden begangen. Aber wenn seine guten Taten alles andere wiedergutmachten?
Jared schüttelte den Kopf. Bisher hatte er immer nach Schatten statt nach Sonnenschein Ausschau gehalten. So war er von Onkel Stuart erzogen worden, einem sehr unzugänglichen Menschen. Natürlich hatte Stuart dafür gesorgt, dass Jared alles bekam, was er brauchte. Aber er war kein echter Elternersatz gewesen. Nach dem Tod seiner Adoptiveltern hatte er den vierjährigen Jared in einem Zimmer am anderen Ende des Flurs ganz allein gelassen. Die Bettdecke bis zum Hals hochgezogen, konnte Jared damals nicht schlafen wegen all der nächtlichen Schatten um ihn herum – und wegen der Albträume von entgleisenden Zügen.
So lernte er früh, hart zu sein, seine Tränen zu unterdrücken und sich auf sich selbst zu verlassen. Ja, während er aufwuchs, hatte er gelernt, sich innerlich von Angst und Liebe zu distanzieren, weil man beides im Nu verlieren konnte, wenn man nur die Augen zumachte.
Aber sollte er dieses Mal nicht lieber die Augen aufmachen, um zu sehen, ob es da draußen noch etwas anderes gab
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