Julia Saison Band 17
Schoß legte. Sicher verstand sie seine Geste. Er wollte vermeiden, dass irgendjemand das Buch sah und anfing, Fragen zu stellen. Genau deshalb mochte er Annette, weil sie auch ohne große Worte auf einer Wellenlänge waren.
Mit leuchtenden Augen sah sie ihn an. „Schon irgendwas Spannendes gefunden?“
Jared hob die Schultern. „Ich habe erst eine halbe Seite gelesen.“ Obwohl er nicht sicher war, ob ihm der Rest überhaupt gefallen würde, spürte er das dringende Bedürfnis, weiterzulesen.
Was hatte „furchtbare Sünden“ zu bedeuten? Und was wäre, wenn Violet und Davis Jackson, die so scharf darauf waren, jede Kleinigkeit über Tony Amati zu berichten, noch vor Jared alle Details herausbekamen?
Er dachte an den Babybauch seiner Exfrau, als sie ihn verlassen hatte. An seine Tochter, die jetzt elf Jahre alt war.
Er wusste, wie es sich anfühlte, von einem Elternteil förmlich vernichtet zu werden. Nach der Begegnung mit seiner leiblichen Mutter hatte er sich gewünscht, sie nie gefunden zu haben. Wenn seine Tochter von ihm und den „furchtbaren Sünden“ seiner Familie hörte, wäre sie dann ebenso niedergeschmettert?
Oder, noch schlimmer, wäre es ihr gleichgültig?
Eigentlich spielte es doch keine Rolle. Er hatte sich bei Melissa immer herausgehalten und lediglich ihrer Mutter jeden Monat Geld geschickt. Selbst wenn er jetzt versuchte, mit seiner Tochter Kontakt aufzunehmen, wäre es gut möglich, dass sie nichts mit ihm zu tun haben wollte.
Annette neigte den Kopf zur Seite. „Du siehst verloren aus, Cowboy.“
„Nein, nicht verloren.“ Vielleicht sollte er besser gehen. Doch er blieb sitzen, während im Hintergrund ein langsames, wehmütiges Stück von Nat King Cole spielte. Jared sehnte sich danach, jemandem wie Annette alles zu erzählen. Dennoch brachte er es nicht über sich. Warum sollte sie sich für einen Herumtreiber wie ihn interessieren?
Sie ging zu dem Tisch, wo ihre letzten Kunden das Geld für die Rechnung zurückgelassen hatten, und dann zur Kasse, um die Summe einzubongen. „Du hast ausgesehen, als würdest du darüber nachdenken, von hier zu verschwinden. So siehst du oft aus, wenn ich dich in deinem Truck sehe.“
Zum ersten Mal machte sie eine persönliche Bemerkung, aber irgendwie störte ihn das nicht. „Schickt hier eigentlich jeder gleich einen Bericht raus, sobald ich bloß niese?“
Sie schob die Kasse zu. „Mir kannst du ruhig sagen, wohin du fährst.“
Jared warf einen Blick zur Durchreiche. Declan war nicht zu sehen. Na schön. „Meine Großmutter wohnt etwas außerhalb der Stadt“, antwortete er schließlich.
Der Privatdetektiv hatte seine Großmutter mütterlicherseits ausfindig gemacht. Jared hatte wissen wollen, ob in dieser Gegend vielleicht Verwandte von ihm lebten. Ihretwegen war er nach St. Valentine gekommen und dann in dem Saloon gelandet, in dem er Tonys Bild gesehen hatte.
„Wie nett.“ Annette zog sich einen Stuhl an den Tresen, um sich hinzusetzen. „Du besuchst also deine Großmutter. Wer hätte das gedacht?“
Ihm fiel ihr Parfum auf. Lilienduft? Schon lange hatte er nicht mehr auf Blumen geachtet.
„Vielleicht zeige ich ihr das.“ Er hielt das Tagebuch hoch. „Sie beschäftigt sich mit der Vergangenheit und erzählt gerne Geschichten. Aber als ich sie nach meinem Doppelgänger gefragt habe, war nicht viel aus ihr herauszuholen.“ Mit dem Kinn wies er auf Tony Amatis Foto. Außerdem hatte seine Gran einen merkwürdigen Gesichtsausdruck bekommen, als er Tonys Namen erwähnte.
Annettes Augen glänzten noch immer. „Manchmal wissen Großmütter und Großväter alles über einen Ort. Also, deine Großmutter …?“
„Sie meinte, sie hätte schon lange kein Bild mehr von Tony gesehen und könnte deswegen auch nichts zu einer möglichen Ähnlichkeit sagen.“
„Und als du sie darauf angesprochen hast, dass ihr zwei wie Brüder ausseht?“
„Sie meinte, das müsste wohl Zufall sein.“
„Hm. Ein ziemlich ungewöhnlicher Zufall“, stellte Annette fest.
Jared war derselben Meinung, schwieg jedoch. Sein Verdacht in Bezug auf Tony war so stark gewesen, dass er sich zuerst im Hotel einquartiert und in den hiesigen Büchereien und im Internet nachgeforscht hatte. Mittlerweile war er zu pleite, um sich einen Privatdetektiv leisten zu können. Schließlich hatte er sich einen Job gesucht und eine Hütte am Rande der Stadt gemietet, um vielleicht doch noch Antworten auf seine Fragen zu finden.
Die Türglocke läutete, neue Gäste
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