Julia Sommerliebe 0020
hatte er es schon in dem Moment gewusst, als der Polizeiwagen in jener dunklen Straße gehalten hatte. Seine Zeit als Chirurg war vorbei. Er hatte nur an seine Hände denken können und war von Angst befallen worden. Davor, dass der Schaden nicht mehr gutzumachen wäre – egal, wie schnell man ihn ins Krankenhaus brachte. Und Seb hatte sich nicht getäuscht: Er würde nie wieder operieren.
Durch sein selbstloses Handeln hatte er verloren, was ihm am meisten bedeutete. Seine Karriere als Chirurg war beendet, genau wie viele andere Dinge: In den vergangenen Wochen hatte er unzählige angebliche Freunde verloren. Zahlreiche prominente Patienten hatten sich von ihm abgewandt, weil er für sie nicht mehr von Nutzen war. Und wie viele Frauen waren wie Ratten vom sinkenden Schiff geflohen, obwohl sie früher alles dafür gegeben hatten, mit ihm gesehen zu werden. Wie die eitle, wankelmütige Lidia di Napoli. Seb war nicht mehr der Liebling der High Society von Florenz. Nur die Medien hatten nach wie vor Interesse an ihm und waren wild darauf, alles über seinen Fall vom Gipfel des Ruhms zu berichten.
Sobald es möglich gewesen war, hatte Seb das Haus seiner Tante und seines Onkels verlassen und sich nach Elba und in die Villa der Familie zurückgezogen. Hier wollte er in Ruhe darüber nachdenken, was um alles in der Welt er mit seinem restlichen Leben anfangen sollte. Hier auf der Insel konnte er endlich ganz er selbst sein. Die Einheimischen kannten seine Familie und respektierten seine Privatsphäre. Und zum Glück hatten die Reporter die Villa noch nicht entdeckt. Bis jetzt zumindest nicht.
„Das muss ein schreckliches Erlebnis gewesen sein, Seb“, riss Gina ihn aus seinen Gedanken.
„Ja, das kann man durchaus sagen“, erwiderte er ein wenig sarkastisch.
Doch Gina ließ sich davon nicht beeindrucken und betrachtete eingehend seine Narben. „Nerven- und Sehnenschäden?“
„Ja.“
Er zuckte leicht zusammen, als sie mit einem Finger über die Narbe an der Innenseite seines Unterarms strich. Seb hatte das Gefühl, die federleichte Berührung im ganzen Körper zu spüren.
„Bereitet Ihnen diese Verletzung auch Schwierigkeiten? Wurde der Nervus ulnaris verletzt?“
„Warum fragen Sie?“ Wusste die geheimnisvolle Frau mehr über ihn, als sie vorgab? „Verstehen Sie etwas davon?“
Gina hob die Lider mit den dunklen Wimpern, sah ihn mit ihren braunen Augen an und lächelte fast schuldbewusst. „Entschuldigen Sie bitte meine neugierigen Fragen, das ist eine Berufskrankheit. Ich habe nämlich bis vor wenigen Tagen als Krankenschwester in der Notaufnahme eines Krankenhauses gearbeitet.“
Das erklärte ihre von Fachkenntnis zeugenden Fragen, aber diese Information genügte Seb nicht. Spekulierte Gina womöglich darauf, bei ihm einen neuen Job zu finden? Er wollte ihr gerade sagen, dass sie ihre Zeit verschwendete, als sie bereits die nächste Frage stellte.
„Sind Sie in physiotherapeutischer Behandlung? Es ist wichtig, dass Ihre Beweglichkeit erhalten wird. Sie werden feststellen, dass das Empfinden in Ihren Fingern auch nach Monaten noch zunehmen wird.“ Sie schenkte ihm ein Lächeln, während sie sanft, aber mit sicheren Bewegungen seine Hand untersuchte.
„Bestimmt hat der zuständige Chirurg Ihnen das alles auch schon gesagt. Derartige Verletzungen kamen bei uns auf der Station oft vor, deshalb weiß ich, wie frustriert viele Patienten in der ersten Phase der Genesung sind. Verlieren Sie also nicht die Hoffnung, dass es besser wird. Haben Sie eigentlich das Bild gemalt?“
„Wie bitte?“ Ginas Geplauder und der plötzliche Themenwechsel amüsierten und irritierten Seb zugleich.
Sie wies auf das unvollendete Bild auf der Staffelei. „Haben Sie das gemalt?“
„Ja. Ich wollte ausprobieren, ob ich noch mit Pinseln umgehen kann. Da ich nicht richtig zugreifen kann, musste ich meinen Stil ändern, aber …“ Er unterbrach sich. Wie um alles in der Welt war es dieser fremden Frau gelungen, dass er ihr Dinge anvertraute, die er sonst niemandem verriet? Er stellte stirnrunzelnd fest, dass er sie noch immer seine Hand halten ließ.Verärgert entzog er sie ihr.
Unbeeindruckt von seiner Schroffheit, trank Gina einen Schluck Saft. „Das Gemälde ist ungewöhnlich, im positiven Sinn. Es ist sehr interessant und hat viel Atmosphäre.“
„Es gefällt Ihnen?“, fragte Seb überrascht.
„Ja, ich finde es toll. Die farbigen Flächen sind ein sehr geschicktes Stilmittel. Sie haben das natürliche
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