Julia Sommerliebe 0020
Dennoch beschlich ihn ein schlechtes Gewissen. Er hätte nicht an Gina zweifeln sollen, insbesondere da sie sich ihm gegenüber so offen und aufrichtig verhielt. Ganz im Gegensatz zu ihm.
Statt länger darüber nachzudenken, erzählte er seinem Cousin von Marias Auftrag, Matthews Asche beim Neptunsfelsen zu verstreuen. „Ich dachte, Zio Roberto und Zia Sofia hätten sicher nichts dagegen“, schloss Seb seinen Bericht.
„Ganz bestimmt nicht“, stimmte Ricco ihm zu. „Tu einfach, was du für richtig hältst, Seb. Außer uns wird ja ohnehin niemand davon erfahren. Was für eine berührende Geschichte!“
„Ja“, bestätigte Seb, froh darüber, Riccos Unterstützung zu haben.
„Und, wie ist sie?“
„Etwas schwach, allerdings für eine siebzig Jahre alte Frau auch nicht bei sonderlich schlechter Gesundheit. Natürlich hat sie ein paar Probleme, besonders mit der Atmung. Deshalb konnte sie auch nicht mit uns essen gehen.“
Ricco lachte. „Ich meinte die Enkelin. Gina!“
„Ach so.“ Auch er begann nun zu lachen, allerdings hatte sein Gelächter einen unsicheren Unterton. Seb verstand seine Gefühle für Gina selbst nicht, wie sollte er sie dann seinem Cousin erklären? „Sie …“
„… gefällt dir sehr“, vervollständigte Ricco den Satz. „Wenn sie groß, blond und kurvig ist, komme ich gern nach Elba und lerne sie persönlich kennen.“
„Nein, ist sie nicht. Du kannst also wegbleiben.“ Seb konnte nichts dagegen tun, dass seine Stimme scharf und abwehrend klang. Sosehr er seinen Cousin auch mochte, ihm behagte die Aussicht darauf absolut nicht, dass Ricco seinen berüchtigten Charme und sein gutes Aussehen auf Gina wirken ließ.
„Schon gut, ich habe verstanden. Aber jetzt hast du mich natürlich noch neugieriger gemacht“, erwiderte Ricco spaßhaft. „Diese Gina muss ja wirklich etwas Besonderes sein, wenn du schon nach wenigen Stunden so besitzergreifend und durcheinander bist. Sonst bist du ja eher für deine kühle, zurückhaltende Art bekannt.“
„Ich bin weder besitzergreifend noch durcheinander“, protestierte Seb, womit er seinen Cousin zweifellos nicht überzeugen konnte.
„Ach, cugino, ich höre es dir doch an. Und ihr beide hattet also ein Abendessen in trauter Zweisamkeit! Hast du Gina denn inzwischen die Wahrheit gesagt?“
„Dazu bin ich noch nicht bereit.“
„Du machst dir Sorgen darüber, wie sie reagieren wird, wenn sie von deinem Ruhm und deinem Geld erfährt“, stellte Ricco scharfsinnig fest.
„Heute Abend ist mir erst richtig bewusst geworden, wie wenig mir gefällt, was ich in den vergangenen Jahren gemacht habe. Ich hätte mich niemals so weit von meinen Überzeugungen entfernen sollen.“
„Sie scheint dich ja wirklich beeindruckt zu haben.“
„Ich kenne Gina erst seit einigen Stunden“, wandte Seb ein.
„Manchmal passieren solche Dinge eben sehr schnell“, entgegnete Ricco. „Du solltest ihr wirklich bald die Wahrheit sagen, Seb, falls diese Sache mit ihr weitergehen soll. Sonst könntest du es irgendwann bereuen.“
Sein Cousin hatte aufrichtig besorgt geklungen, sodass Seb versprochen hatte, darüber nachzudenken. Doch er befürchtete nach wie vor, Gina könnte ihre Meinung über ihn ändern, sobald sie alles über ihn erfuhr.
Jetzt, im Krankenhaus, machte er sich auf die Suche nach ihr. Das war riskant, denn hier kannte ihn so gut wie jeder. Und es war nicht der richtige Zeitpunkt für sein Geständnis. Gina war sicher sehr besorgt um ihre Großmutter. Vorerst musste er sich sehr vorsichtig bewegen. Jetzt ging es vor allem um Marias Gesundheit und darum, wie Gina mit der Situation zurechtkam.
Seb entdeckte Gina endlich. Allein saß sie in einem kahlen Korridor und wartete offensichtlich. Sie trug ausgeblichene Jeans, ein kurzärmeliges rotes Oberteil und Turnschuhe. Unruhig klopfte sie mit einem Fuß auf den Boden, die Hände hielt sie auf dem Schoß ineinander verkrampft. Bei ihrem Anblick verspürte Seb eine nie gekannte Zärtlichkeit. Als er auf sie zuging und Gina aufsah, wirkte sie zuerst überrascht, dann erfreut und schließlich erleichtert.
Er streckte die Arme aus. Gina zögerte nicht, sondern stand sofort auf und schmiegte sich an ihn. Seb zog sie fest an sich. Was würde er nicht alles tun, um sie zu beschützen! Er war dankbar, dass sie ihm genug vertraute, um sich von ihm trösten zu lassen.
Als er Ginas Gesicht betrachtete, merkte er, wie blass und angespannt sie aussah. Behutsam strich er ihr eine Strähne aus der
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