Julia Sommerliebe 0020
schüttelte den Kopf und versuchte, sich auf das zu konzentrieren, was nun getan werden musste. „Bis weitere Helfer kommen, müssen wir uns erst einmal um diejenigen kümmern, die es am nötigsten brauchen.“
Unbeherrscht fluchte er, weil ihm sein ganz persönliches Problem wieder in den Sinn kam. Heute hatte er Gina alles beichten wollen, und jetzt erfuhr sie es so.
„Was ist denn?“, fragte sie.
Er nahm ihre Hände fest in seine und sagte eindringlich: „Bevor wir uns hierauf einlassen, möchte ich dir noch einmal sagen, wie wichtig du mir bist – und dass ich nicht wollte, dass es auf diese Weise passiert.“
„Ich verstehe nicht, was du meinst.“
„Ich weiß, Gina, und das ist meine Schuld. Alles ist meine Schuld. Aber es hat nur mit mir zu tun, nicht mit dir!“ Er blickte aus dem Autofenster und sah den Polizisten auf sie zueilen, der ihn angerufen hatte. Dann wandte Seb sich fast verzweifelt wieder Gina zu. „Es tut mir leid. Wenn das hier vorbei ist, werde ich dir Dinge über mich erzählen, die du schon vor langer Zeit hättest erfahren sollen. Bitte denk einfach daran, was ich für dich empfinde und was wir einander bedeuten. Bitte.“
„Aber …“
„Dottore Adriani! Was für ein Glück, dass Sie gerade auf der Insel sind! Wir brauchen sofort Ihre fachliche Unterstützung!“, rief der Polizist, als Seb die Wagentür aufriss.
„Du bist Arzt?“, fragte Gina erschüttert.
Hätte er doch bloß auf Ricco gehört – und auf Maria! Inständig wünschte Seb, er hätte seinen albernen Stolz und seine Ängste vergessen und Gina gleich zu Beginn die Wahrheit gesagt. Je länger er es aufgeschoben hatte, desto komplizierter war alles geworden. Und jetzt musste sie alles auf die denkbar schlechteste Art und Weise erfahren.
„Später erkläre ich dir alles, versprochen.“ Seb umfasste ihr Gesicht und gab ihr einen kurzen Kuss. Sie hatten keine Zeit und mussten schnell handeln. „Komm, Gina. Du musst nun meine Hände sein, damit wir anderen helfen können.“
Sie zog sich von ihm zurück und blickte ihn aus großen, dunklen Augen gekränkt an. „In Ordnung.“ Ihre Stimme klang kühl und distanziert.
Als sie aus dem Wagen gestiegen war, hastete Seb ihr nach. Er musste sich auf das konzentrieren, was sie zu tun hatten. Die Verletzten brauchten ihre Hilfe, und das war im Moment wichtiger als seine persönlichen Probleme. Doch er würde Ginas Gesichtsausdruck nie vergessen. Sie hatten ihn erst verwirrt, dann ungläubig und schließlich sehr verletzt angesehen. In dem Augenblick war ihr bewusst geworden, dass er sie belogen hatte. Es hatte Seb einen schmerzhaften Stich ins Herz versetzt.
Wie sollte er die Dinge zwischen ihnen nur jemals wieder in Ordnung bringen?
8. KAPITEL
Gina war verletzt und durcheinander, versuchte jedoch, den Schock niederzukämpfen und sich auf ihre Aufgabe zu konzentrieren. Die jahrelangen Erfahrungen mit Unfall- und Notfallopfern würden ihr helfen. Gina hatte schon viel in ihrem Leben gesehen. Dennoch bestürzte sie das sich vor ihr ausbreitende Chaos.
Es war kaum vorstellbar, dass hier am Hang noch kurz zuvor ein modernes vierstöckiges Gebäude gestanden haben sollte. Es war zu mehr als drei Vierteln eingestürzt. Eine Außenmauer stand noch, und man konnte ins Innere blicken. Es sah aus, als hätte ein Riese das Gebäude mit einer gewaltigen Axt durchgeteilt. Möbel, Kleidung, persönliche Gegenstände, Staub und Trümmer waren überall verstreut. Aber zumindest hatten die Menschen in diesem Teil des Gebäudes ins Freie fliehen können. Was war mit den Feriengästen, die im Schlaf von der Katastrophe überrascht worden waren und jetzt unter den Trümmern verschüttet waren?
Einige Überlebende irrten benommen umher und suchten nach Angehörigen und Partnern. Blutend, weinend, mit Verletzungen und Gehirnerschütterungen. Ein paar Frühaufsteher, die sich nicht in der Anlage aufgehalten hatten, sondern vor dem Frühstück zum Schwimmen oder an den Strand gegangen waren, kümmerten sich um sie. Immer mehr Einheimische und Feuerwehrleute trafen ein, um die Bauteile fortzuräumen und nach Verschütteten zu suchen.
Auf die Expertenteams mit Ausrüstung zum Heben schwerer Teile, mit Spürhunden und Wärmekameras wurde noch gewartet.
Kurz nachdem Gina und Seb angekommen waren, trafen zwei weitere Ärzte sowie mehrere Krankenschwestern aus der Klinik in Portoferraio ein. Sie brachten das dringend benötige Material zum Versorgen der Verletzten mit. Seb übernahm das
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