JULIA SOMMERLIEBE Band 21
Pläne zu schmieden und sein Leben möglichst normal fortzusetzen.
Nach außen hin hatte er selbstverständlich die Gefühle gezeigt, die man von ihm erwartet hatte. Er spielte seine Rolle perfekt, jeder glaubte ihm, dass er ein guter Christ war, der seiner Feindin vergeben hatte. Doch das war nur der äußere Schein. Er lächelte, plauderte, pflegte Bekanntschaften und Beziehungen, nahm Lob für seine geschäftlichen Erfolge an, ließ sich bewundern und beneiden und wurde ein reicher Mann. Doch das bedeutete ihm nichts.
All dies verfolgte nur den Zweck, ihm Einfluss zu verschaffen. Die Macht, die er brauchte, um für Gerechtigkeit zu sorgen, um strafen zu können …
Er presste seine rechte Hand auf die harte hochglanzpolierte Fläche seines Schreibtisches. In dem großen Büro mit den bodentiefen Fenstern war es eiskalt, nur das prasselnde Kaminfeuer, das er gerade angezündet hatte, verlieh dem Raum nach und nach etwas Wärme.
Geistesabwesend nahm er den schweren goldenen Siegelring vom Finger und betrachtete, wie sich der Feuerschein in dem edlen Metall spiegelte. Die eingravierte Rose, um die sich eine Schlange wand, war das Wahrzeichen seiner Familie. Bald würde die Schlange zuschnappen.
Langsam drehte er seine Hand um und starrte auf die deutlichen Lebenslinien, die sich in der Innenfläche eingegraben hatten. Es war, als wollten sie ihn und seine unerfüllten Wünsche und Träume verspotten. Er hatte so große Hoffnungen in die Zukunft gelegt. Doch dann kam sie und zerstörte alles.
Aber jetzt waren die langen, bitteren Jahre des Wartens vorüber. Endlich hatte er sie genau da, wo er sie haben wollte … Sie war gefangen in seiner mächtigen Hand, ohne dass sie auch nur den leisesten Hauch einer Ahnung hatte. Und der Zeitpunkt passte perfekt. Sie dachte, sie sei in Sicherheit. Sie glaubte, die ganze Welt habe ihr Verbrechen vergessen. Bald, ja sehr bald würde sie eines Besseren belehrt werden. Dafür wollte er sorgen. Denn Mord verjährte nie.
Er ballte die Hand zur Faust. Jetzt musste er seine sorgsam aufgestellte Falle nur noch zuschnappen lassen und ihr bei ihren vergeblichen Befreiungsversuchen zusehen. Sie würde wahrscheinlich in Tränen ausbrechen und ihre Unschuld beteuern, oder sie würde wutentbrannt toben und ihm drohen. Noch besser wäre allerdings, wenn sie am ganzen Leib zittern und ihn anflehen würde, sie zu erlösen. Dann wollte er ihren Stolz brechen, ihr die Selbstachtung nehmen und dabei Zeuge sein, wie all ihre Träume und Hoffnungen vernichtet wurden. Dieses Bild, wie sie, allem beraubt, in sich zusammenfiel, hegte er wie einen Schatz in seiner dunklen, verbitterten Seele.
Er griff nach dem Whiskyglas aus schwerem Kristall und nahm einen großen Schluck der starken, lange gelagerten bernsteinfarbenen Flüssigkeit. In seiner Kehle spürte er die rauchige Schärfe des Getränks. Sie war angenehm, aber sie war nicht mit dem berauschenden Geschmack der Rache zu vergleichen, der all seine Sinne wohltuend betäubte. Zum ersten Mal seit einem Jahrzehnt fühlte er sich fast wieder zufrieden. Ein teuflisches Lächeln umspielte seine Lippen.
Endlich war es so weit …
2. KAPITEL
Vivian nahm die letzten beiden Stufen mit erleichtertem Schwung. Oben angekommen blieb sie angespannt stehen. Sie holte tief Luft und zwang sich, auf die schmale Treppe zurückzublicken, die aus dem schroffen Abhang herausgemeißelt worden war und deshalb steil nach unten führte. Erschauernd blickte sie auf das von Felsen übersäte, meeresgrüne Nichts zu ihren Füßen. Tief unter ihr am Strand löschten zwei Männer die Fracht aus dem Laderaum des kleinen Fährbootes. Jetzt erst wurde ihr bewusst, wie hoch sie war. Nur ein breites Holzgeländer bewahrte sie vor dem Absturz.
Vivian schluckte hart. Ihre Beine fühlten sich an wie Gummi. Wankend kämpfte sie gegen das Verlangen an, zu Boden zu sinken, um sich auszuruhen und zu sammeln.
Die eine Hand gegen den Bauch gepresst versuchte sie, ihren aufgewühlten Magen zu beruhigen. Mit zwei hastigen Schritten entfernte sie sich von der Steilkante, wandte sich schnell ab und eilte den steil ansteigenden, steinigen Weg entlang. Niedrige, kümmerliche Bäume säumten den Pfad. Bevor sie an ihrem Ziel ankam, musste sie unbedingt die Kontrolle über sich wiedergewinnen. Sie straffte die Schultern, strich im Gehen ihren eleganten dunkelgrünen Rock glatt und rückte den dazu passenden Blazer zurecht. Nervös wechselte sie ihre Aktentasche aus weichem Leder von einer
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