JULIA SOMMERLIEBE Band 21
gehofft, mit guten Nachrichten aus der Klinik zurückzukommen.“ Dann wagte sie es, ihn anzusehen. „Was wird nun werden?“
„Gib mir Zeit. Ich muss erst mal über alles nachdenken. Morgen wirst du entlassen, dann sollten wir gemeinsam überlegen. Ich werde jetzt gehen. Du brauchst Ruhe. Morgen, nachdem ich in Mailand mit meinem Vater gesprochen habe, hole ich dich ab und dann reden wir.“
„Bis morgen“, verabschiedete sie ihn mit dünner Stimme.
Kurz glaubte sie, den alten Glanz in seinen goldenen Augen zu sehen. Oder hatte sie sich geirrt?
„Bis morgen, Maria Lisa.“
Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss.
In den warmen Farben des Herbstes sieht Amalfinoch zauberhafter aus als im Sommer, dachte Marisa, als sie über die Hänge bis aufs Meer blickte.
Sie konnte nicht erklären, warum sie hierhergekommen war, statt nach London zurückzukehren. Immerhin war sie Mitinhaberin einer Galerie und hatte sich so den Weg nach England frei gehalten.
Nachdem Lorenzo sie besucht hatte, war Marisa auf eigenen Wunsch aus der Klinik entlassen worden. Sie hatte ein Taxi zur Villa Proserpina genommen und dort ein paar Sachen gepackt, um zur Küste aufzubrechen. Dem Personal hatte sie gesagt, der Arzt habe ihr einige Tage Luftveränderung empfohlen, um sich zu erholen.
Für Lorenzo hatte sie eine Nachricht hinterlassen. Mit sachlichen Worten hatte sie ihm geschrieben, dass es unter diesen Umständen unmöglich sei, noch länger zusammenzubleiben. Sie bat ihn, die Scheidungspapiere nach London zu schicken, wo sie sie unterschreiben wollte.
Es ist besser so, sagte sie sich immer wieder. So konnte sie der Demütigung entgehen, dass er die Trennung vorschlug.
Mit den Tränen kämpfend hatte sie den Brief schließlich in ein Kuvert gesteckt und im kleinen salotto an eine Vase mit weißen Lilien gelehnt. Dann war sie die Treppe hinuntergegangen, in ihren Wagen gestiegen und gefahren.
Als ihr Blick im Rückspiegel noch einmal auf die Villa Proserpina gefallen war, hatte sie schlucken müssen. Nie wieder werde ich hierher zurückkehren, hatte sie traurig gedacht.
Und nun saß sie zum letzten Mal im Garten der Casa Adriana. Die Villa war verkauft worden – das hatte Mrs. Morton, die sich bis zum Schluss um die Blumen gekümmert hatte, ihr soeben erzählt. Wie zum Abschied stand der Garten in voller Blüte, und überall leuchteten violette, pinkfarbene und weiße Farbtupfer.
„Es scheint, als habe sich außer uns beiden noch jemand in diese wundervolle Aussicht verliebt. Endlich zieht wieder Leben ein in die Casa Adriana “, sagte die alte Dame, die neben Marisa auf der Bank Platz genommen hatte.
„Ich hoffe nur, dass Adriana mit den neuen Bewohnern einverstanden ist“, entgegnete Marisa mit einem traurigen Lächeln.
„Es ist also die alte Geschichte, die Sie wieder hierhergeführt hat?“ Mrs. Morton schwieg einen Moment lang. „Verraten Sie mir eines? Ich habe mich das oft gefragt … Als Sie damals während Ihres Urlaubs hier waren, kam jeden Tag ein junger Mann, der am Tor stand und beobachtete, wie Sie auf der Bank saßen. Groß und sehr gut aussehend. Haben Sie ihn jemals getroffen?“
Marisa stockte der Atem. „Ein Mann?“
„Er kam nie herein. Ich fand das sehr bedauerlich, denn er schien genauso einsam zu sein wie Sie, und ich hatte gehofft, Sie würden sich begegnen.“
Verletzt und einsam, dachte Marisa an die Worte, mit denen Ottavia Lorenzo beschrieben hatte.
„Wir haben uns tatsächlich getroffen“, sagte sie leise. „Aber … es ist nichts daraus geworden.“
„Weil Sie damals schon verheiratet waren? Entschuldigen Sie, dass ich so direkt bin, aber ich sehe den Ring an Ihrem Finger.“
Marisa starrte auf ihre Hände und nickte. „Ja, weil ich … verheiratet war.“
Mrs. Morton erkannte, dass die junge Frau nicht mehr preisgeben wollte. Deshalb lächelte sie nur, stand auf und verabschiedete sich freundlich.
Gedankenverloren blickte Marisa aufs Meer.
Ich sollte auch gehen. Wie konnte ich erwarten, hier Frieden zu finden? Dieser Ort steckt voller Erinnerungen an die unglücklichste Zeit meines Lebens.
Dann fiel ihr wieder ein, was die alte Dame gerade erzählt hatte. Lorenzo war ihr jeden Tag gefolgt und hatte am Tor gewartet. Und er hatte kein Wort gesagt …
Wenn ich das doch nur geahnt hätte … Doch mit einem Mal wurde ihr klar, dass sie es die ganze Zeit über gewusst hatte. Sie hatte sich hier nie allein gefühlt, weil sie tief in ihrem Herzen gespürt hatte, dass jemand
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